Opfer für den Schreibgott

Ich brauche ein Wort. Denn manchmal sagt ein einziges Wort mehr als tausend Worte. Ich öffne den Mund. Das Wort kommt nicht. Ich schließe den Mund. Ich öffne ihn wieder. Wie ein Fisch an Land, aber es schaut nur so aus, als würde dieser Fisch nach Luft schnappen, in Wirklichkeit erstickt er. Ich atme, aber ich bekomme zu wenig Worte. Und was mich nahe am Leben hält, ist das, was auch stumm funktioniert, ist das Ficken mit Dagmar. Weil ich dann das Gefühl habe, in ihr etwas zu bewegen, etwas zu berühren, etwas tief Inneres, das selbst sie nicht verbergen kann. So unmittelbar kommt ihr Schreien, das ich dann mit meiner Hand an ihrem Mund abfange. Ihr Zucken, die nasse Haut, die keuchende Erschöpfung, die Striemen an ihrem Hintern, dieser blaue Fleck an ihrem Schenkel, der ihr seit Tagen anhaftet … das hat nichts mit ihrer Mutter, mit ihrem Großvater, mit dem Violanum zu tun, das ist die reine Dagmar. In solchen Momenten bin ich bei ihrem Wesen angelangt, gemeinsam mit ihr stehen wir Hand in Hand mit verschränkten Fingern davor. Ihr Schreien kommt dann als die reinste, hellste, ehrlichste Form des Ausatmens – und darum, glaube ich, fickt sie so gerne. Weil es wie Atmen unter Wasser ist und alles sein kann und nichts werden muss.

Diese Textstelle ist ein Opfer.

Denn der Text gehört zu jenen 100.000 Zeichen, die ich in den letzten Wochen gekürzt habe. Ich stelle sie deshalb auf meinen Blog, weil mich die Diskussion zwischen JuSophie und Fred dazu angeregt hat – da bezeichnete man Textkürzungen als Opferzehent an die Schreibgötter. So ist dies nun meine Gabe an Xo, Gott des Kürzens.

Festivitus, Gott der frauenverstehenden Autoren

Er besucht gerne Feste. Er fühlt sich wohl, wenn schöne Frauen um ihn sind. Dann lehnt er am Rand des Geschehens und wartet. Er prahlt nicht damit, dass er Schriftsteller ist – er erwähnt es beiläufig und nur dann, wenn er einer attraktiven Frau begegnet. Von dem Literaturpreis redet er erst, sobald sich eine Literaturdiskussion entspinnt – und meist ist er derjenige, der so eine Diskussion anzettelt – etwa mit der Frage: „Und welche Bücher liest du?“

Sobald die Frau ihm erste intimere Fragen beantwortet, lässt er durchsickern, dass er seinen prämierten Roman aus der Sicht einer Frau geschrieben hat.

Schlampus, Gott der der Fehler

Schlampus wird nur selten als Skulptur dargestellt – trotzdem ist er in jedem literarischen Werk präsent.

Seine Taktik ist die des stetigen Rückzugs, vergleichbar mit dem Vorgehen der russischen Armee von 1812: Fehlerbehaftete Worte sind das weite Land, und der fehlersuchende Autor muss irgendwann aufgeben, will er seinen Roman noch zu Lebzeiten verlegt sehen. Oben ein Beispiel für Schlampus‘ Wirken. Peter Heissenberger, der mein Manuskript durchgelesen hatte, erkannte einen Fehler, markierte ihn und las weiter. Zurück blieben zwei weitere.

Daraus ergibt sich folgende Heuristik der Korrekturen: Die Menge an Fehlern, die ein Korrekturleser findet, ist großteils disjunkt zu jener Fehlermenge, die ein zweiter Korrekturleser findet.

(Dass in der Überschrift „der der“ steht, ist mir passiert, aber ich habe es gelassen, um Schlampus begreifbar zu machen – wem von euch ist übrigens dieser Fehler nicht aufgefallen?)

Brachialus, Gott der Gewaltdarstellungen

Brachialus war der jüngere Bruder von Dirtus, und ebenso mühte er sich, massive Gefühle beim Leser auszulösen. Seine Methode war die explizite Darstellung von körperlicher Gewalt und Schmerz. Brachialus gehörte zu den vehementen Kritikern der Ilias wegen der verharmlosenden Darstellung des Kampfes um Troja. So schuf er das vierbändige Werk: „Das Massaker von Troja“.

Doch der ausbleibende Erfolg ließ ihn zweifeln. Darum wird er auf den Skulpturen als nachdenklicher Mann dargestellt, gestützt auf den Insignien der Gewalt. Ihm wurde klar, dass es nicht so viel brauchte, um den Leser zu rühren. Im Gegenteil, erst der sparsame Einsatz von Gewalt entfachte große Wirkung.

Fortan schrieb Brachialus Frühlingslyrik, in der er den Verfall der Blätter des letzten Jahres beklagte, und das tat er auf so subtile Weise, dass sogar Juno weinte.

Calmira, Göttin der Labung und der Linderung

Calmira versorgt den Autor mit dem Nötigsten, damit er mit dem realen Leben fertig werden kann, wie zum Beispiel mit Alkohol. Auf dieser Skulptur stützt sie sich auf eine weingefüllte Amphore. Auch sorgt Calmira für Linderung – hier symbolisiert durch ein feuchtes Tuch für den verkaterten, kopfwehgeplagten Autor.

In impressionistischen Darstellungen mildert sie ihm die Realität durch erotische Eindrücke, etwa wie bei Édouard Manet:

Trustinus, Gott des Selbstvertrauens

Auf dieser Skulptur aus dem 18. Jahrhundert lehnt er lässig an den Trophäen seiner Schreibkunst. Trustinus ist keiner, der sich wegen einer Schreibkrise Sorgen macht. Emotionale Tiefs steckt er weg, weil ihn die Überzeugung trägt, dass ihn die rechten Einfälle zur rechten Zeit ereilen würden. Er quält sich nicht mit literarischer Arbeit – und doch ist er stets bereit, viel zu schreiben, wenn der Fluss einsetzt. Er spricht nicht davon, Talent zu haben, Neid ist ihm fremd – er freut sich mit den Erfolgen seiner Kolleginnen und Kollegen.

Schreibtheologische Frage #3: Welcher ist der Gott des Schreibkampfs?

Danke, Christina, für diese Frage. Die Antwort lautet:

Es gibt keinen. Vielmehr ist es ist der Widerstreit der Götter, mit anderen und mit sich selbst – sprich, es ist der Olymp in seiner Gesamtheit.

Wer monotheistisch denkt, ist verleitet, in Maniacus, Gott der Getriebenen, seinen einzigen Gott des Schreibkampfes erblicken. Aber Vorsicht, Monotheismus ist eine sehr gefährliche Sache.

Struktura, Göttin des Plots

Struktura schafft die Festigkeit, die große Werke benötigen. Sie steht im ewigen Widerstreit mit Inceptus, dem Gott der Anfänge. Sie meint, Inceptus solle doch die Kapitel planen, einen Plot und seine Figuren skizzieren. Inceptus verabscheut ihre Besserwisserei und meint, Planung verdirbt die spontane Inspiration.

Struktura wird niemals alleinstehend dargestellt, sonder stets als Teil des Handlungsgerüsts (siehe diese Darstellung aus dem 18. Jahrhundert). Damit wird gezeigt, dass nicht nur die handelnden Personen, sondern auch der Autor Teil seines Romanwerks ist.

Inceptus wirft Struktura vor, sich selbst Gefangene zu sein und preist die literarische Freiheit als höchstes Gut des Künstlers. Worauf Struktura anmerkt, Inceptus habe niemals einen Roman zuwege gebracht.

Inceptus, Gott der Anfänge

Er lässt sich in seine großen Projekte hinein mit aller Emotion. Er schreibt schnell, er schreibt treffend. Er geht im Schreiben auf. Die Leser erzittern bei seinen poetischen Bildern. Und kommt der Moment, wo die schnell aufgemachten Handlungsstränge als lose Enden herumliegen und er planen sollte, wie es weiter geht, wartet er auf Inspiration.

Und wartet. Und wartet.

Und da keimt in ihm schon ein neues Projekt auf, mit frischen Gefühlen. Diesmal schwört er sich: Das ist es! Er beginnt den Roman und … schreibt Gedichte, zu denen er soeben inspiriert wurde. Bis er wieder einen Roman liest, der ihn anspornt, einen fulminanten Anfang hinzulegen.

Er würde am liebsten nur Gedichte schreiben. Und sie gar noch selbst vertont vortragen. Aber von der Literatur leben? Das könne er eben nur, sagt er, wenn er endlich seinen großen Roman geschrieben habe. Aber danach, so flüstert er, nach seinem Durchbruch würde er nur mehr Gedichte schreiben. Er redet von William Blake, mit feuchten Augen. Und zeigt mir ganz verschämt seinen Lyrikband, den er mit Aquarellfarben illustriert hat.

Darlingus, Gott der mitgeschleppten Last

Darlingus (mit Helm) ist ein heldenhafter Autor, der so lange an seinem Lieblingstext festhält, bis der Text alt und buckelig ist. Der Text passt nicht in seinen Roman, aber Darlingus schleppt ihn weiter, von Romanfassung zu Romanfassung. Darlingus ist so verbissen, er sieht nicht die frischen Themen und Ideen, die ihn umgeben, hier als kindlicher Herkules dargestellt (hätte Darlingus über Herkules berichtet, wäre nun er berühmt und nicht Homer).

Silencia, Göttin der Auslassung

Ich kann etwas beschreiben, indem ich explizit nicht darüber spreche. Indem ich – für den Leser sichtbar – einen Bogen um das Wesentliche mache.

Dieser Bogen kann Spannung bringen (genannt „Spannungsbogen“) und fordert vom Leser, sich das Innere des Umschriebenen selbst zu konstruieren. Somit spürt der Leser viel mehr, weil er sich die Geschichte selbst erschafft.

Silencia bringt mich zum Schweigen. Sorgt dafür, dass ich nur das Nötige sage, um dem Leser das Wichtige zu überlassen. Xo und Silencia arbeiten zusammen – Silencia die Zärtliche. Und Xo der herauspickende Kürzer, der eingreift, wenn ich Silencia überhört habe.

Schreibtheologische Frage #2: Warum es nicht nur einen Schreibgott geben darf

Sehen wir uns ein Beispiel an, was passiert, wenn man nur mehr einen Gott hat.

Pharao Echnaton. Er reduzierte die Schar der 2000 ägyptischen Götter zu einem einzigen. Fortan durfte nur mehr Aton, Gott der sichtbaren Sonnenscheibe, angebetet werden – gegen den erbitterten Widerstand der Priesterschaft. Echnaton schuf die erste monotheistische Religion.

Echnaton ließ eine neue, eine riesige Hauptstadt errichten, die ganz auf die Huldigung von Aton ausgerichtet war: Amarna. Im Zentrum ein Tempel mit mehr als 900 Tischen (Siehe Abbildung), um Gott Aton Speisen zu opfern. Die Bevölkerung zahlte den Preis für die neuen Hauptstadt und das soziale Chaos – Echnatons Regentschaft wird als „die schwarze Periode in der Geschichte Altägyptens“ bezeichnet.

Nach seinem Tod wurden die alten Götter wieder eingesetzt. Man zerstörte Echatons Gesicht auf seinen Steinbildnissen. Seine Hauptstadt wurde nach seinem Tod sofort aufgegeben und verfiel.

Nun, das alles wollen wir nicht, und darum gibt es viele Schreibgöttinnen und Schreibgötter.

Schreibtheologische Frage #1: Über die Schreibblockade

Ursula fragte mich via facebook: „Gibt es da im Olymp eine Göttin, die hilft, Schreibblockaden zu entfernen? Oder ist dafür Easia zuständig?“

Liebe Ursula, eine Schreibblockade ist ein innerer Kampf, und so, wie bei Troja ein Haufen griechischer Göttinnen und Götter involviert waren, so spielt es sich natürlich auch im Autor (und wohl auch in der Autorin) ab.

Easia anzurufen und dem sinnlosen Schlachten auszuweichen ist natürlich eine Möglichkeit. Andere Autoren werfen sich voll in den Kampf und kommen weiter, indem Sie sich endlich zu ihrer Bewunderung für Dirtus, Gott der schmutzigen Worte, bekennen. Wie immer rund um den Schreibolymp gibt es viele Wege, und die meisten wirken gegensätzlich.

Damit ist deine Frage, Ursula, noch keineswegs beantwortet. Ich werde mich weiterhin damit beschäftigen und die Schriften studieren. Du hörst von mir.

Dirtus, Gott der schmutzigen Worte

Er war überzeugt, dass grausliche Worte große Emotion erzeugten.

Er meinte, sein Publikum müsste sich seine Texte erst verdienen. Er sagte, er wollte gar nicht in den Olymp. Er schimpfte über die angepasste Literatur, die dort oben herrschte und über jene, die es geschafft hatten.

Er redete gerne von Henry Miller und sagte, Miller hätte sich auch nichts geschissen.

Utiliaria, Göttin des wirtschaftlichen Nutzens

Utilaria wird meist mit einer Schriftrolle dargestellt, die sie dem Autor weggenommen hat. Sie reicht ihm dafür einen nützlicheren Gegenstand (Diese Gegenstände wandeln sich mit den Epochen – in dieser Darstellung aus dem 18. Jahrhundert ist es eine Flöte, denn Flötenschnitzer waren damals eine sehr angesehene Zunft).

Utilaria prangert das wirtschaftliche Unvermögen des Autors an und schlägt ihm gleichzeitig vor, etwas zu tun, wovon man leben kann.