Damit es seinen Schrecken verliert

Manchmal erfahre ich irritierende Dinge. Und damit die dann ihren Schrecken für mich verlieren, gehe ich ganz nahe hin. Wie etwa hier:

Zu dir hineingeschlichen habe ich mich, und nun stehe ich an deinem Lager. Deine Augenlider haben sie dir geschlossen, damit du endlich schläfst. Ich habe dich schreien gehört, so wie wir alle im Dorf dich gehört haben, und gehofft haben wir alle, dass dein Kind doch noch aus dir heraus kommt. Als es für dich zu Ende war, haben sie eine Decke auf deinen Bauch gelegt, und an meinen Ohren liegt immer noch dein letzter, großer Schrei.

Sie haben mich geschickt, weil du morgen Dämonin sein wirst, zur Stärksten unter allen starken Frauen wirst. Weil du um das Leben gekämpft hast und gesiegt hast und deinen Platz neben den Göttern einnehmen wirst. Und mich, den Jüngsten unter den Dieben, haben sie geschickt, damit ich einen Talisman besorge, einen, der so stark ist, dass er alle unsere Feinde gefroren macht. Aber wie soll ich auch nur einen, einen einzigen Finger von dir losschneiden, wo du im letzten, großen Schrei deine Finger so fest zu Fäusten gepresst hast, dass nur mehr kalter, weißer Stein übrig ist?

(In meiner letzten Schreibwerkstatt am 19.2.2012 erfuhr ich von Mociuaquetzqui. Nach aztekischer Mythologie wird eine Frau, die an der Geburt verstirbt, zur Mociuaquetzqui, also zur starken, weiblichen, engelhaften Dämonin. Aber erst nach drei Tagen. Und wer es schafft, innerhalb der drei Tage ihr Haare oder Finger abzuschneiden für ein Amulett, der braucht keine Feinde fürchten.)

Opfer für den Schreibgott

Ich brauche ein Wort. Denn manchmal sagt ein einziges Wort mehr als tausend Worte. Ich öffne den Mund. Das Wort kommt nicht. Ich schließe den Mund. Ich öffne ihn wieder. Wie ein Fisch an Land, aber es schaut nur so aus, als würde dieser Fisch nach Luft schnappen, in Wirklichkeit erstickt er. Ich atme, aber ich bekomme zu wenig Worte. Und was mich nahe am Leben hält, ist das, was auch stumm funktioniert, ist das Ficken mit Dagmar. Weil ich dann das Gefühl habe, in ihr etwas zu bewegen, etwas zu berühren, etwas tief Inneres, das selbst sie nicht verbergen kann. So unmittelbar kommt ihr Schreien, das ich dann mit meiner Hand an ihrem Mund abfange. Ihr Zucken, die nasse Haut, die keuchende Erschöpfung, die Striemen an ihrem Hintern, dieser blaue Fleck an ihrem Schenkel, der ihr seit Tagen anhaftet … das hat nichts mit ihrer Mutter, mit ihrem Großvater, mit dem Violanum zu tun, das ist die reine Dagmar. In solchen Momenten bin ich bei ihrem Wesen angelangt, gemeinsam mit ihr stehen wir Hand in Hand mit verschränkten Fingern davor. Ihr Schreien kommt dann als die reinste, hellste, ehrlichste Form des Ausatmens – und darum, glaube ich, fickt sie so gerne. Weil es wie Atmen unter Wasser ist und alles sein kann und nichts werden muss.

Diese Textstelle ist ein Opfer.

Denn der Text gehört zu jenen 100.000 Zeichen, die ich in den letzten Wochen gekürzt habe. Ich stelle sie deshalb auf meinen Blog, weil mich die Diskussion zwischen JuSophie und Fred dazu angeregt hat – da bezeichnete man Textkürzungen als Opferzehent an die Schreibgötter. So ist dies nun meine Gabe an Xo, Gott des Kürzens.

Mein nächstes Romanprojekt? In Englisch? Verrückt!

Ich trage sein Wochen eine Idee mit mir. Für ein kommendes Romanprojekt.

Das Verrückte daran: Ich bilde mir ein, ich schreibe es in Englisch. Weil …

  • es etliche Autoren gibt, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben (Ilija Trojanow, Susanne Gregor)
  • ich stets dachte, ich könne keine Fremdsprachen beherrschen
  • ich mit dem englischsprachigen Markt kokettiere
  • weil dieses wenigwortige Business English Teil unserer Kultur geworden ist (siehe  Beratersprech) und ich will zeigen: mit geringem Wortschatz kann ich auch Emotionen intensiv ausdrücken.
  • weil es mir persönlich als Autor andere Welten aufzuschließen vermag.
  • weil es Leute geben wird, die sagen: Das kannst du nicht tun! Du kannst das nicht. Warum machst du das? Bleib doch bei dem, was du kannst … Ja, habe ich denn Romane schreiben können, bevor ich damit begonnen habe?

Inhaltsidee: Es sind die Aufzeichnungen von V. (45), und sie umfassen einen Zeitraum von 24 Stunden. Rund um einen Ball, der in der Wiener Hofburg stattfindet. V. gehört zu den mächtigen Männern des Landes. Mit Frau (42) und Sohn (18) besucht er den Ball – denn sein Sohn tanzt im Eröffnungskommittee. Da lernt V. die Tanzpartnerin seines Sohns kennen. Das ist der Auslöser. Sein Wertesystem stülpt sich von innen nach außen. Es bleibt für ihn keine Sicherheit übrig. Alles ist nun unvorhersehbar. – In diesem Text seziert V. sich selbst, seinen radikalen Wandel und diese 24 Stunden.

Hier eine Idee für den Beginn und die Form:

Viennese Waltz

I write this in English.
Since My past language does not fit anymore.
My skin has turned inside-out
and turning is still in progress.

I write this to survey myself.
What is inside me, what is outside?
I touch things.
And whatever I touch for the second time,
feels bloodstained.

My mother tongue is Austrian.
My mouth tastes furrily.
I need different words to cope with what is different now.

Broken English in broken sentences.
Drawn together into a mosaic.

Was meint ihr?

Der soziale Hintergrund der Geschichte ist für mich folgender: Ich will für mich eine Erklärung finden, was eine erfolgreiche Frau wie Anne Sinclair dazu bringt, für ihren Mann auf die eigene Verwirklichung zu verzichten, obwohl sie weiß, dass ihr Mann sie laufend betrügt. In dem Roman geht es anfänglich um V., später dann um die Beziehung von V. zu seiner Frau. Mehr und mehr verlagert sich der Schwerpunkt des Romans hin zu seiner Frau und ihrer Vision vom Glück.

(PS: Es ist schon gut, einen Blog zu haben – da weiß ich, wo ich meine Ideen für’s Erste mal parken kann. Danke, Blog, dass es dich gibt.)

Oed.

Ich betrete den Hof mit der Frühlingsschmetterlingswiese – ich meine jenen Hof, der ganz im Stadtzentrum von Oed liegt, links vom Kriegerdenkmal.

Henry Miller liegt auf einer weißen Plastikklappliege. Mit der rechten Hand winkt er mir zu. Er trägt einen weißen Frotteebademorgenmantel, der auf seinem Bauch mit einem weißen Frotteemantelgürtel verknotet ist. Sein linker Ellbogen ruht auf der Lehne der Plastikklappliege, den Unterarm senkrecht nach oben, die Hand steckt in einer Möse. Ich grüße ihn und überlege, ob ich sie kenne – „Im Wendekreis des Steinbock“ gibt es diese Szene im Dunkeln, die ich sogar abgetippt und auf meinen Blog gestellt habe.

Miller steht auf, im Hergehen steckt er seine Möse in die Manteltasche, knotet sich den Bademantel fester, bloßfüßig sind seine Schritte auf dem Gras. Wir sprechen Oberflächliches, unter anderem über Personalführung in Telekommunikationskonzernen in den Dreißigerjahren.

Ich setze mich an einen Gartentisch, muss ja etwas schreiben. Ich klappe meinen Laptop auf, und zu mir kommt eine Katze. Weißgoldendes Fell, sie schnurrt und quetscht beim Einatmen und sie gurgelt beim Ausatmen, sie reibt ihre Ohren an meine Laptopbildschirmkante. Ich streichle über ihr Fell.

Henry Miller fragt mich, was ich hier tue. Ich sage, das hier sei meine morgendliche Schreibübung. Die Schreibwerkstättenleiterin habe mich geschickt.
»Was? Hierher, ins Fickparadies? Wer macht denn sowas?«

Ich frage Miller, ob das hier ohnehin kein Traum sei. Denn über einen Traum dürfe ich jetzt nicht schreiben, wegen der Beliebigkeit. Es müsse etwas Realistisches sein. Er legt seine Möse auf den Tisch. Ich möge sie ruhig anfassen, sie sei total realistisch. Man müsse sie über Nacht einlegen, dann bliebe sie jahrelang saftig. Ich sage ihm, dass ich dazu nichts sagen könne, weil mir der Vergleich fehle, weil seine Möse behaart sei und sich meine Freundinnen stets rasieren. Miller deutet auf einen uralten Mann mit der dickglasigen Brille und der adjektivlosen Pfeife. »Geh zu ihm. Der kann dir sagen, ob das hier existiert.«

Ich gehe zu diesem Mann. Ich schaue ihn an. Er schaut mich an, mit seinem rechten Auge, denn sein linkes ist weit nach links abgedriftet. Ich glaube mein Spiegelbild in seinem Auge zu erkennen, aber dann irre ich mich ja doch nur.

»Willkommen«, sagte er. Er kaut eine Weile an seinem Pfeifenmundstück.

»Wir werden noch viel Zeit hier miteinander verbringen«, sagt er.

 


Entstanden im Rahmen der Langschlager Lyrik-Schreibwerkstatt mit Evelyn Schlag. 29.8.2011. Die Aufgabe lautete: Einen Tagesanbruch ausdenken für einen Ort, der einem nicht vertraut ist, etwa einen, den man in Google Maps gefunden hat. Und/oder eine Person erfinden, die in einem (dem Autor unbekannten) Nachbarort lebt. Man kann Ortsnamen ruhig assoziativ verwenden – der Ortsname löst etwas aus, oder die Stadt löst etwas aus.

Schreibwerkstatt ’99: Der Wasserspeier

Letztens fiel mir folgende Schreibübung in die Hände, die aus der legendären Schreibwerkstatt von Julian Schutting 1999 in Maria Trost stammt. Es war die zweite Aufgabe. Sie lautete: Zur Kirche von Maria Trost hinüber gehen und etwas mit fremdartiger Sichtweise zu beschreiben.

Der Wasserspeier (Finale Fassung, 13.7.1999)

Wasserspeier gegenüber der Wallfahrtskirche Maria Trost. Errichtet 1934. Renoviert 1984 und zur Labung der Pilger wieder in Betrieb genommen.

Du gehst auf mich zu, ganz nahe stehst du bei meinem Gesicht, ich will mich abwenden, weil mir ekelt. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbrochene ein.

Ich will dich nicht sehen! Mir tun die Augäpfel schon weh, so fest schiele ich nach rechts. Gefesselt in Stein, nur mit dem Kopf in der Welt draußen, zur Unbeweglichkeit verdammt.

Du heuchelst Interesse für die Inschrift über meinem Kopf und starrst dabei nur mich an. Hör auf damit! Ich bin häßlich, ich weiß. Ein Engelsgesicht mit Pausbacken hätte ich sein sollen, doch die Stirnfalten entlarven ich als Greis. Laß dir den Mund von einer Metallröhre entstellen, laß dir von schwitzenden Männern die Hand auf das Gesicht legen, wenn sie sich zu deinen Lippen beugen, um deinen Ausfluß zu lecken! Deinen Zorn könnte auch kein Stein für sich behalten.

Und jetzt laß mich alleine.

Hier nun die beiden vorangegangen Entwürfe, die ich auf Anraten Schuttings einkürzte:

Der Wasserspeier (Fassung 1, 12. 7. 1999)
(Feedback: zu manieriert, in der Art „Ein Christbaum erzählt“, pseudonaiv, geht nicht auf, Perspektive stimmt nicht, im Zuschauen wäre dieser Ansatz gut.)

Du gehst auf mich zu, ganz nahe stehst du bei meinem Gesicht, ich will mich abwenden, weil mir ekelt. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbroche ein. Dir graut vor gar nichts, du bist wohl Schriftsteller. Davon muß es in der Nähe ein Nest geben, denn ein Dutzend deinesgleichen führt unbeflecktes Papier spazieren, ich sehe die verbissenen Gedanken, die den Kampf gegen die Allgemeinplätze längst verloren haben.
Ich schaue dich nicht an, auf den Haupteingang sehe ich, mir tun die Augäpfel schon weh, so fest biege ich meinen Blick nach rechts. Gefesselt in Stein, nur mit dem Kopf in der Welt draußen, bleibt mir nichts anderes übrig. Nur dort, auf den Stiegen, finde ich gelegentliche Abwechslung, wenn ich Brautpaare ins Glück treten sehe.
Du trinkst, als müßte ich deine geistige Leere füllen. Du ärgerst dich, daß der Strahl zu früh erlischt. Das will ich erleben, wie du mit fünfundsechzig so wie ich auf Knopfdruck Wasser lassen kannst!

Du heuchelst Interesse für die Inschrift über meinem Kopf und starrst dabei nur mich an.

Hör auf damit! Ich bin häßlich, ich weiß es selber, ein Engelsgesicht mit Pausbacken, das kitschiger ist als es selbst das Barock zuließe. Doch die Stirnfalten entlarven mich als Greis, sie verraten dir meine Leiden. Laß dir den Mund von einer Metallröhre entstellen, laß dir von schwitzenden Männern die Hand auf das Gesicht legen, wenn sie sich zu deinen Lippen beugen, um deinen Ausfluß zu lecken! Du würdest auch nicht glücklich dreinschauen.

Du trinkst noch einmal, gierig.

Ersticken sollst du an mir!

Du weichst zurück, bist du erschrocken? Weil du glaubst, mich grinsen gesehen zu haben? Du hustest, armer Mensch, die Luft will sich nicht von dir atmen lassen, vergänglicher Mensch! Du änderst deine Farbe, das kann ich nicht, du sinkst auf die Knie, das kann ich auch nicht.

Aber eines kann ich.

Dich überleben.

Der Wasserspeier (Fassung 2, 12. 7. 1999)

Mir ekelt vor dir. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbrochene ein. Dir graut vor gar nichts, du bist wohl Schriftsteller.

Der Schriftsteller fährt zurück. Hat diese Worte tatsächlich jemand gesagt? Er schaut sich um. Niemand hier. Nur der Trinkbrunnen vor der Kirche. Der Schriftsteller liest die Tafeln, die anläßlich der Errichtung 1934 und der Renovierung 19xx angebracht worden sind. Der Wasserspeier erinnert den Schriftsteller an das Gesicht der barocken Engeln, die sich im Inneren der Kirche tummeln.

Ein zweiter Versuch, der Durst zwingt den Schriftsteller dazu. Er drückt nochmals den silbrigen Knopf unter dem Wasserbecken, doch das Wasser will nicht in seinen Magen.

Denn da ist das Lachen.

Der Schriftsteller hustet, das Flüssige schneidet die Luft ab, es brennt in der Nase.

Das Gesicht verliert plötzlich die kindlichen Züge. Die Stirnfalten entlarven es als Fratze eines Greises. Der Schriftsteller wendet sich ab, damit er wieder atmen kann.

Der Moment vor dem Unfall (Öl auf Leinwand)

Fotorealistische Darstellung einer Landstraße in leichter Linkskurve. Der Betrachter nimmt die Position des Autofahrers ein und blickt durch die Windschutzscheibe. Die Sicht ist klar, aber es gibt nichts zu sehen. Keine Autos, keine Menschen, keine Häuser, keine Wolken, keine Farben. Bloß einen Marillenbaum, rechts neben der Fahrbahn, mit hellrosa Blüten, jede Blüte ausgeführt. Die Tachometernadel steht auf siebzig. Die Hände des Betrachters umklammern das Lenkrad. Auf den grauen Handrücken das feine Geflecht aus dunkelgrauen Äderchen.


Entnommen der 1. Fassung meines momentanen Romanprojekts. Es findet in der jetzigen (7.) Fassung keinen Platz mehr.

Tod des Antiquitätenhändlers

Ich fuhr nach Wien, mit dem Zug. Zu Fuß durchquerte ich die Innenstadt und ging zum Antiquariat. Ein Geschäft mit zwei Schaufenstern. Ich drückte meine Nase an das Glas, meine Hände zu Scheuklappen, damit ich hineinsehen konnte. Polierte Biedermeierschränke. Gepolsterte Sessel mit geschwungenen Lehnen. Kleine Ölbilder mit dunklen Landschaften. Eine Vitrine mit bemalten Porzellanfiguren: ein Junge tollt mit seinem Hund umher – ich hatte nie einen Hund. Ein Mädchen spielt Laute – ich hatte nie ein Instrument erlernt; ein junges Paar verliebt auf einer Parkbank – ich hatte nirgends in diesem Schaufenster Preisschilder entdeckt. Ein Foto auf einem Tischchen. Metallrahmen mit schwarzer Schleife. Das Portrait eines Mannes im Pensionistenalter. An der Glastür das handgeschriebene »Wegen Trauerfalls geschlossen«, und dennoch unversperrt. Eine elektrische Klingel machte Lärm, auch als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Sofort stand die Frau vor mir.

»Wir sind geschlossen«, so sagte sie es.

Ich redete sie an, auf das, was passiert war, und sie erwiderte: »Was wissen Sie denn schon, wie das ist.«

»Glauben Sie mir, ich weiß es«, sagte ich.

Sie führte mich in das Büro. Gestreifte Biedermeiertapete mit Blumenmuster. Ein Stuhl aus geschwungenem mit Lederner Sitzfläche vor einem Biedermeiersekretär. Auf und zu so einem Tisch passt kein Laptop. Hier will die Feder in das Tintenfass getunkt sein, um Worte sind auf handgeschöpftes Papier zu kratzen. Blut hatte die Politur zerstört. »Der muss in die Werkstatt. Aber ich bin noch nicht soweit«, sagte sie.

Wir schwiegen eine Weile, gemeinsam.

»Ich bin noch nicht so weit«, sagte sie.

Sie zog eine leere Schublade aus dem Tisch. »Hier haben die Polizisten den Viola–Ring gefunden. Ein Ring! Was macht mein Mann mit einem neuzeitlichen Ring? Seine Welt ist das Biedermeier.«

Sie fügt ein »gewesen« an.

Das Schlimmste sei der Vorwurf. Sie stützte sich auf dem Sekretär ab, versehentlich auf dem Blutfleck. Sie riss die Hand hoch und legt sich die Finger sich an die Wange. „Mein Mann war doch niemals ein Hehler. Wir haben das gar nicht nötig.“

Ich fragte sie, was mit dem Fußboden war. Dort, wo der Teppich endete, war eine Stelle mit vier Schrammen im Parkett. Splittrige, helle Rillen. Ich beugte mich hinunter und fasste einen herausstehenden Splitter an. Sie sagte, dass sie sich diese Kratzer auch nicht erklären konnte. Es käme ihr vor, als hätte ein Tier seine Pranke ins Holz geschlagen.


Entnommen der 1. Fassung meines momentanen Romanprojekts. Es findet in der jetzigen (7.) Fassung keinen Platz mehr.

Die Schlacht (Öl auf Leinwand)

Sofort wird der Betrachter mit seinen Blick in das Zentrum getrieben, in das Getümmel aus Pferdeleibern, Reitern, Fußvolk und Leichen. So dicht, dass jeder Hieb einen Aufschrei hinterlässt, jeder Stich einen Blutschwall öffnet, jeder Schuss das Fleisch zerreißt. Es gibt kein Ausweichen mehr, bloß ein Aufbäumen und ein Hinabsinken. Hinter dem Getümmel ein Horizont aus Licht, der die hochgereckten Schwerter glänzen lässt, aber die Gesichter zu Schatten macht. Das ist das Licht der brennenden Stadt, und obwohl die ganze Stadt, ja die ganze Welt zu brennen scheint, reicht das Feuerlicht kaum über aufragenden Lanzenspitzen hinaus – denn von oben drückt dunkel durchwobener Rauch. In so einer Welt hätte eine Sonne gar keinen Platz. Denn das hier passt nicht in ein Tageslicht, aber eine Nacht will sich auch nicht recht einstellen. Und die Jahreszeit? Hier grünt nichts, hier welkt nichts mehr, und von einem Mantel aus Eis und Schnee ist auch nichts übrig.

Rechts oben, dem Bilderrahmen schon recht nahe, die Burg. Sie passt nicht recht in das Gemälde. Zu unversehrt überragt sie das Gemetzel. Monolithisch, wie aus einem einzigen Felsstück gemeißelt. Groß scheint sie zu sein, denn rund um sie ist nichts mehr übrig, das vergleichsweise Kleinheit aufzeigen könnte. So eröffnet sich dem Betrachter der Zusammenhang: erst wenn diese Burg zerstört ist, wird das Gemetzel in sich zusammen fallen.

Wenn sich der Betrachter nun noch etwas Zeit gibt und den Blick schweifen lässt, wird er auch jene zwei Figuren bemerkt, die links in den Vordergrund gesetzt sind. Vielleicht fallen sie deshalb nicht ins Auge, weil sie so unbehelligt wirken. Der ältere, hoch zu Ross, mit glänzendem Harnisch, mit ernstem, bärtigem Gesicht. Ihn rühren weder Pferdekadaver noch bleiche Menschenreste. Er gehört zu jenen, die schon dermaßen viel Schmerz in sich tragen, dass ihn das Leid der anderen nur schwerlich rührt. Sein Schmerz kommt mit jeder Bewegung, steckt in jedem seiner Gliedmaße. Von seinem Pferd wird er nur mit fremder Hilfe herabsteigen können. Er ist General der Schweden. Seine Geißel ist die Gicht.

Der andere, der jüngere, hat schulterlanges, lockiges Haar. Auch er trägt Schmerz in sich. Sein Gesicht ist glatt und grau, so wie ich es vom Spiegel kenne, morgens, wenn ich in meine Leere schaue. Ich hebe meinen Arm und deute zur Burg. Daraufhin hebt der General den Blick, doch ohne den Kopf zu bewegen. Jetzt die Detonation. Mauerwerk und Leiber spritzen empor, sind schwarze Punkte vor der Burg, die im hellen Licht zerbricht.


Entnommen der 1. Fassung meines momentanen Romanprojekts. Es findet in der jetzigen (7.) Fassung keinen Platz mehr.

Verweilen (Öl auf Leinwand)

Dieses Gemälde verlangt Zeit ab. Deshalb steht ein Sessel davor. Keiner, der zum Sitzen einlädt, sondern ein kantiger, aus unbehandeltem Holz gezimmert, ohne Krümmung, die sich dem Rücken anpasst. Wer hier Platz nimmt, der soll nicht ruhen, im Gegenteil, er soll sich das Bild erarbeiten, er soll dermaßen aufmerksam sein, denn jederzeit könnte etwas passieren. Ich hänge es in die Violagalerie. Gebe ihm dort einen eigenen Raum. Den Sessel schiebe ich so nahe heran, dass der Betrachter das Gemälde mit ausgestreckten Armen beinahe berühren kann. Aber eben nur beinahe. Der Raum ist weiß. Das Licht diffus, kommt von überall her, es gibt keine Schatten – denn hier drinnen ist jede Bewegung frei von allem. Frei von Schatten, frei von jedem Sinn – hier ist nichts, was Sinn verbreiten könnte. Es existiert nur Raum, Bild, Sessel. Und der Betrachter, der sich zum Teil von allem macht. Sobald er sich gesetzt hat, zur Ruhe gekommen ist und sich abgefunden hat, dass nichts werden kann – und ich meine: er hat sich wirklich damit abgefunden – da setzt Bewegung ein. Eine stille Bewegung, die er im Gesichtsfeld nicht recht lokalisieren kann. Es bilden sich Schattierungen, kontinenthafte Konturen, die aneinander vorbei driften.

Und dann der Moment, in dem das Bild ausufert.

Weil es frei ist, weil es keinen Rahmen kennt. Die Konturen schieben sich über die Leinwandkante zum Betrachter. Sie richten sich auf, formen Gestalten, winden sich glänzend empor, sie erschaffen sich Farben und mit jedem Atemzug wird es reicher. Die Formen gleiten ineinander über, umschließen mich, auf eine glatte, stille Art, und mein Herz – ich stelle es mir vor, wie es inmitten von alledem schlägt. Ich spüre etwas Wachsen, es könnte um mich sein, es könnte in mir sein. Oder ich, ich wachse in etwas hinein, in etwas, das anders ist. – Und schon fallen die Gestalten in sich zusammen. Sind am Boden nur mehr Überreste, die auf die Leinwand zurückgesogen werden und dort verschmelzen, als sei nie etwas gewesen. Raum, Bild, Sessel, ich. Weil ich es nicht geschafft habe. Weil ich nachdenken musste und das Nachgedachte niederschreiben musste.


Entnommen der 2. Fassung meines momentanen Romanprojekts. Es findet in der jetzigen (7.) Fassung keinen Platz mehr.

Gestrichenes Romanfragment, Teil III

(Dies ist die Fortsetzung von Teil 2)

Frauen sammeln Reisig, und Männer hacken das Holz zurecht. Für die Gehilfen des Priesters. Die errichten eilig den Scheiterhaufen für das Kriegerbegräbnis. Obenauf das arme Wesen, in Lammfell eingewickelt. Der Priester legt ein Schwert daneben, einen Schild, Brotfladen und Vorratsgefäße mit Getreide und eine Schale mit Birkenrindenschwelteer. Der Fürst presst sich seine Fäuste gegen die Wangen. Der Priester öffnet einem Hasen den Brustkorb, fingert das Herz heraus, schmiert sich Blut auf die Stirn, ja, die Götter sind gewillt, den Fürstensohn zu sich zu holen! Er spricht seine Beschwörungsformeln, ganz leise seine Stimme, denn der Fürst hat befohlen, dass seine Frau nichts davon merken darf. Der Scheiterhaufen wird entzündet, Rauch umhüllt das arme Wesen, das Holz knackt, erste Flammen züngeln empor. Der Fürst schließt die Augen, für einen Moment nur, aber sofort sind die Erinnerungen da und die Gesichter und die Blicke vor dem Getötetwerden und die brennenden Hütten. Der Fürst zwingt sich, die Augen offen zu halten. Alles kann noch gut werden, sagt er sich. Gestrichenes Romanfragment, Teil III weiterlesen

Gestrichenes Romanfragment, Teil II

(Dies ist die Fortsetzung von Teil 1)

Der Fürst befiehlt Osobo, seinem zweitgeborenem Sohn, im Wald vor der Siedlung mit den Kriegern in Stellung zu gehen. Der Fürst selbst hetzt sein Pferd vom Hügel hinab, weiter durch den Auwald und den Fluss entlang, bis er das Lager erreicht. Er springt ab und betritt das Fürstenzelt. Dunkelheit. Schweiß und Rauch. Schemenhaft der Hirschenthron mit dem Geweih eines Vierzehnenders. Seine Waffen. Auf einem Tabernakel die tönerne Schale mit dem Birkenrindenschwelteer, erhitzt von einer kleinen Flamme. Auf dem Boden stehen kleine Figuren aus Holz, Stein, Knochen. Der Priester hat sie angeordnet, in jener Konstellation, die er letzte Nacht vom Sternenhimmel abgelesen hat. Gestrichenes Romanfragment, Teil II weiterlesen

Gestrichenes Romanfragment, Teil I

(Dieser Text stammt aus dem Jahr 2004 und war als Vorgeschichte zum Roman „Die Archäologin“ angedacht. Die Personen: Der Fürst eines Reiterheeres, das aus dem Osten kommt; Acheio, sein ältester Sohn; Osobo, sein zweitgeborener Sohn. Die Handlung spielt im Jahr 1044 v.Chr. Der Fürst ist eben dabei, eine ihm fremde, bronzezeitliche Siedlung im östlichen Weinviertel zu erobern.)

Dem Fürsten steht eine gebückte Frau im Weg. Zerbrechliche Statur, das Kleid aus grobem Stoff, ihr Stock ragt über sie hinaus. Die Haare silbrig, die Augen hell. Sie versperrt dem Fürsten und seinen Kriegern den Weg durch das Tor. Er gibt dem Pferd die Sporen, das Pferd scheut wie vor einer Schlange, ein Wiehern wie ein Schrei. Der Fürst kommt der Alten nahe, so nahe es das Pferd zulässt, und ruft: „Aus dem Weg!“

Sie verharrt unbewegt, das Pferd bleibt unruhig. Sein Fell fühlt sich nass an.

„Fort mit dir!“, ruft der Fürst, „Oder willst du sterben?“

„Ja“, sagt sie, geflüstert. Sie hebt den Kopf, schaut zum Fürsten herauf. „Sobald meine Zeit gekommen ist.“

Das Pferd bäumt sich auf, der Fürst reißt die Zügel zurück, die Trense schneidet sich in sein Maul, endlich hört es auf, umherzutänzeln.

„Warum bist du hier?“, fragt der Fürst.

„Ich kämpfe.“

„Mit deinem Stock also kämpfst du gegen uns?“

Die Alte schüttelt den Kopf und sagt: „Ich kämpfe für das Leben deiner Frau.“

Sie schließt die Augen.

(Teil 2 folgt morgen)

Ich werde Ihnen heute sagen, wie ich schreibe.

Mein Name ist Thomas. Ich bin Autor. Ich werde Ihnen heute sagen, wie ich schreibe.

Übrigens: nichts von dem, was ich hier sage, steht auf den Zetteln, die Sie ausgeteilt bekamen. Darum, heben Sie die Köpfe und sehen Sie mich an. Hören Sie mir gut zu. Denn ich sage Ihnen jetzt, wie ich schreibe.

Ich schreibe, indem ich anfange.

Weil, mit irgendwas muss man doch anfangen!
Mit zwei Menschen vielleicht.
Die setze ich nebeneinander. In einen Panzer. Oder an den Frühstückstisch. Ich will über das Frühstücken schreiben. Mehr Ideen habe ich nicht. Aber ich könnte weiter nachdenken.

Frühstück 1967 in einem Panzer im Sechstagekrieg.
Oder in einem Siebzigerjahre-Wohnblock in Graz.

Das in Graz ist besser. Denn ich habe gelernt, dass man nicht immer wie wild töten muss, um beim Leser was zu bewirken. Aber wie wild ficken, das muss man in einem Roman. Außer natürlich, es ist vom Krieg die Rede. Die meisten Bücher in Österreich haben was mit dem Krieg zu tun, darum wird so wenig gefickt.

Merken Sie, wie ich mich winde, um nur ja nicht mit dem Schreiben zu beginnen? Wie ich abschweife? Als Autor bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, abzuschweifen. Ich denke an alles Mögliche, damit ich mich nur ja nicht dem Wesentlichen stellen muss.

Ich zwinge mich zurück zum Frühstück. 2 Menschen also. Was für Menschen? Das muss ich doch wissen, als Autor, oder? Mann und Frau meinetwegen. Sie ist gut gelaunt, denn sie hat einen jüngeren Liebhaber. Er aber ist Autor.

Und jetzt? Keine Ahnung! Die Leute fragen mich immer, wie ich das alles so durchkonstruiere in meinen Romanen, aber da ist nichts Konstruiertes, das ist alles nur passiert, das passiert in meinem Kopf und immer wieder und hört nicht auf. Mein Schreiben ist dann gut, wenn es bloßes Beobachten ist. Und so beobachte ich die beiden und schreibe auf, was beim Frühstück passiert, während ich darüber schreibe.


Entstanden für eine Lesung/Aufführung Theater im Stockwerk in Graz – Kollegen des Improvisationstheaters unterbrechen die Lesung und führen den Text spontan weiter

Kerstin küsst den Winter

Kerstin öffnet die Augen, bevor Papa sie geweckt hätte. Denn draußen passiert etwas. Etwas weiches, sanftes. Grau ist der Morgen, aber für so etwas Wunderbares braucht es keine Sonne! Der Schnee ist gekommen. Als Papa hereinkommt, um sie zu wecken, steht Kerstin längst am Fenster und drückt die Nase an die Scheibe.

„Hörst du das?“, fragt Kerstin.

„Was denn?“, fragt Papa.

Papa stellt sich hinter sie, legt seine weichen Hände auf ihre Schultern.

„Der Winter ist gekommen“, sagt sie.

Dann Frühstück und Strumpfhose und dicke Hose und dicker Pullover und dicke Jacke und Schal und Haube und Handschuhe und endlich draußen! Schule? Nein, jetzt keine Zeit, jetzt ist Winterzeit! Jetzt muss watteweicher Schnee durchwatet werden, jetzt müssen die Handschuhe fort, damit Flocken auf der Hand landen, frei dahinschmelzen können. Jetzt will sie die Stille hören, die sich mit der weißen Decke über die Stadt legt. Jeden Schritt genießen, denn jeder Schritt hinterlässt eine Spur. Das ist so anders als im Staubsommer.

Sie kommt am Park vorbei, wo Schneepolster auf den Schaukeln bereit liegen. Die Sandkiste ist schon eine Schneekiste, das Holzpferd ein Eisbär, das Holzhaus ein Iglu. Sie öffnet das Tor zum Spielplatz, ein Quietschen wie aus Sommertagen, doch keine Kinder, die ihr den Platz auf der Schaukel streitig machen könnten. Danke, Winter! Sie setzt sich auf ihre Lieblingsschaukel, die Metallkette ist kalt, sehr kalt, das mag sie, und die blöden Handschuhe hat sie ohnehin schon irgendwo am Weg verloren. Sie wippt vor und zurück. Dabei sieht sie auf die Schule gegenüber vom Spielplatz. Ihre Schule. Die Fenster leuchten gelb und drinnen gehen Gestalten auf und ab. Kerstins Lehrerin wird jetzt schon fragen, wo denn die Kerstin geblieben ist. Kerstin knöpft sich den Mantel auf, und der Schal … es ist so frisch, hier kann sie so herrlich atmen, der Winter hat das Leben und die ganze Welt so neu gemacht. Danke, Winter!

Sie will den Winter umarmen und presst sie ihre Lippen an die Metallkette der Schaukel. Das schmeckt nach nicht viel, vielleicht nach Wassereis. Und irgendwann bemerkt Kerstin: die Kette hält ihre Lippen fest. Sie ist angefroren.

Küssen, denkt Kerstin, das schmeckt ein bisschen süßlich, fast wie Blut.


Entstanden am 1.11.2008 in der Texthobel-Schreibwerkstatt für Kinderbuch und Jugendliteratur, geleitet von Saskia Hula. Jugendliteratur folgt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten, wie ich von Saskia gelernt habe. Sie meinte zu meinem Text, dass das Ende nicht kinderbuchtauglich sei und ab „Sie will den Winter…“ zu kürzen wäre. Das stimmt, finde ich.