Die Tür musste schon alt gewesen sein, als sie in das Haus gekommen war. Niemand im Dorf erinnerte sich, woher sie stammte oder wer sie eingebaut hatte. Sie war beschlagen mit einem Metall, das kein übliches Eisen war. Und die Tür trug eine Inschrift, in einer Sprache, die niemand im Dorf verstand, und jeder, der in dem Dorf lebte, wusste, dass man die Tür nicht öffnen durfte, denn es kursieren Geschichten von Menschen, die es versucht hatten, und die nicht mehr zurückgekommen waren.
Eines Tages sah ein Mädchen die Tür – es war die Tochter des Händler, der zufällig hier im Dorf übernachtete. Das Mädchen war weit gereist und wusste daher sofort, was die Inschrift bedeutete. Es drückte die Türschnalle hinunter, und die Tür öffnete sich träge. Das Mädchen ging hinein.
Nach ein paar Stunden begann der Händler, seine Tochter zu suchen. Er wurde verzweifelter und verzweifelter, und in der Nacht weckte er die Dorfbewohner. Sie alle zogen zu der Tür, rüttelten daran und drückten und zogen, aber sie blieb fest verschlossen. Sie nahmen einen Baumstamm als Rammbock und warfen ihn gegen die Tür. Die Tür gab ein wenig nach. Die Menschen gaben nicht auf. Sie rissen die Tür aus den Angeln und warfen sie auf den Boden. Dann traten sie ein in den Raum, der hinter der Tür lag.
Der Raum hatte kein Fenster und keine andere Tür. In der Mitte des Raums stand ein Stuhl. Darauf lag ein Zettel. Auf dem Zettel stand: „Bitte geht wieder nach draußen und schließt die Tür.“
Als der König starb, war seine Frau, die Königin, so traurig, dass sie sich in ihr Zimmer einschloss und nichts mehr aß. Ihre Diener brachten ihr Essen, aber sie weigerte sich, etwas zu nehmen. Sie wollte nur noch sterben.
Eines Tages hörte sie ein leises Hämmern an ihrer Tür. Sie ging hin und öffnete sie. Da stand ein kleiner Hase. Er sah sie an und sagte: „Ich habe gehört, dass du traurig bist. Kann ich dir helfen?“
Die Königin lächelte traurig und schüttelte den Kopf. „Niemand kann mir helfen“, sagte sie. „Ich bin zu traurig.“
Der Hase sah sie an und sagte: „Ich werde bei dir bleiben, bis du wieder lächeln kannst.“
So blieb der Hase bei der Königin und hielt sie in seinen Armen, bis sie eingeschlafen war. Und als sie aufwachte, lächelte sie.
“Komm, wir gehen in den Wald!”, sagte der Hase.
“Ich kann nicht fort, ich habe kein schwarzes Kleid”, sagte die Königin. Denn Schwarz musste alles sein, das sie trug, denn ein Jahr Trauer zu tragen, das besagte die Tradition.
“Dann lass dir ein Kleid schneidern”, schlug der Hase vor.
Die Königin rief nach den Schneiderinnen und ließ Maß nehmen. Als die Königin am Ende des Tages ihr neues Kleid sah, da war sie enttäuscht.
„Es ist nicht fertig“, sagte sie zu den Schneiderinnen. „Es fehlt ein Knopf“.
Die Schneiderinnen entschuldigten sich und sagten, sie würden sofort einen neuen Knopf annähen. Aber als sie den Knopf angenäht hatten, sah das Kleid immer noch nicht fertig aus. „Es fehlt ein Saum“, sagte die Königin.
Die Schneiderinnen entschuldigten sich wieder und sagten, sie würden sofort einen neuen Saum nähen. Aber als der Saum angenäht war, sah das Kleid immer noch nicht fertig aus.
„Es ist zu kurz“, sagte die Königin.
Die Schneiderinnen entschuldigten sich wieder und sagten, sie würden den Saum schmäler machen. Aber danach sah das Kleid immer noch nicht fertig aus.
„Es ist zu eng“, sagte die Königin.
Die Schneiderinnen entschuldigten sich wieder und sagten, sie würden es sofort weiter machen. Aber danach sah das Kleid immer noch nicht fertig aus.
„Es fehlt ein Ärmel“, sagte die Königin.
Die Schneiderinnen entschuldigten sich wieder. Die Königin war so enttäuscht, dass sie weinte. Sie weinte so sehr, dass sie sich nicht mehr beruhigen konnte. Sie weinte die ganze Nacht und am nächsten Morgen war sie immer noch traurig. Im Morgengrauen dann ging die Königin in den Wald, sie trug ihr unfertiges Kleid. Sie setzte sich auf einen Baumstamm und weinte. Plötzlich sah sie ein Tier, das auf sie zukam. Es war ihr Freund, der Hase.
„Warum weinst du, Königin?“, fragte der Hase.
„Ich bin so traurig“, sagte die Königin. „Ich habe ein Trauerkleid, aber es ist nicht fertig. Erst fehlt ein Knopf, dann der Saum, dann ist es zu kurz und zu eng, und schau: es fehlt ein Ärmel!”
„Ach ja, der Ärmel! Ich kann dir helfen“, sagte der Hase.
“Was du alles kannst, sogar nähen”, sagte die Königin. Sie lächelte.
Da nahm der Hase ein Beil und hieb auf den Oberarm der Königin ein. Die Königin schrie auf und rannte weg. Der Hase hoppelte hinterher, packte die Hand der Königin und riss dermaßen an, dass die Sehnen schnalzten und der Hase nun ihren Arm gänzlich in Händen hielt.
Die Königin brach zusammen.
Der Hase knabberte mit rotnassem Maul am Fleisch ihres Unterarms, der ja sehr dünn war, weil die Königin wegen ihrer Trauer so abgemagert war. Er schaute auf die Königin hinab, die im schwarzen Kleid auf dem Waldboden lag. Er sagte: “Jetzt passt die Ärmellänge.”
Er schmiegte sich an die Füße der Königin, streichelte ihre Fußgelenke und sagte: “Und zu kurz ist das Kleid auch?”
“Nein, das Kleid ist fertig”, stöhnte die Königin, damit sie nicht auch ihre Füße verlor.
In Folge 176 bewegt sich der alte Derrick eine Treppe herab, vorbei an einem Festnetztelefon. Derrick hält in seinen Händen eine Mappe mit papierenen Akten. Er geht in ein Zimmer, auf dem Tisch gibt es einen Aktenkoffer und eine Kaffeetasse.
Man muss folgendes dazu sagen, zu dieser Situation. Die Möbel sind dunkelbraun wie die Haselnuss. Derrick steht in dem Zimmer, das vielleicht als Wohnzimmer gemeint ist – aber es könnte auch das Wartezimmer eines Landarztes sein – ich meine keinen Allgemeinmediziner, sondern einen Psychiater – klar müssen Stühle und Tische massiv sein, damit kein Schaden eintritt. Über dem Tisch hängt ein Luster aus hin- und herverbogenem, weißem Metall, hängt so tief, dass er Derricks Brustwarzen berühren würde, wenn er den Tisch zur Seite schob, was er aber nicht tut, weil der Tisch massiv und Derrick alt ist. Das Fenster, an dem Derrick steht, ist eng und von einem Fensterkreuz gevierteilt. Seitlich hängt grauer Vorhangstoff, ich meine dieses Grau der Spitzendecken, die man immer als erstes wegwirft, wenn man die Wohnung der verstorbenen Eltern nach Verwertbarem durchsucht.
Derrick legt die Aktenmappe in den Aktenkoffer. Er greift zu der weißen Kaffeetasse, stellt sich an das Fenster und schaut hinaus. Währenddessen wird in weißer Schrift das Wort “Rachefeldzug” eingeblendet.
Dann schrillt das Telefon wie eine Türglocke. Derrick stellt seine Tasse ab, geht zum Festnetztelefon, aber der Fußboden unter ihm ist gekachelt. Kackgelbe, quadratische Kacheln, nicht einmal diagonal verlegt. Derrick geht vorbei an einem Schrank, hinter dessen Glastüren neun Teller hängen, angeordnet drei mal drei, dann hebt er den Telefonhörer ab, wendet sich zur Kamera und sagt ein scharfes: “Ja!”
Später kommt eine Frau herein, und Derrick sagt folgenden Satz zu ihr: “Viel Vergnügen hier beim Saubermachen. Auf Wiedersehen.”
Was in dem Haus sauberzumachen ist, erschließt sich nicht, weil die Zimmer so geleert aussehen. Wobei: die Kaffeetasse samt Untersetzer gilt es natürlich in die Küche zu tragen, zu säubern, zu trocknen und in einem Schrank abzustellen.
Vor dem Haus wird auf Derrick geschossen, daraufhin schleudert er den Aktenkoffer weit fort, und als das abgeschlossen ist, tritt er zur Seite, während die Putzfrau im Hausinneren nichts bemerkt, weil sie mit dem Saubermachen von Derricks Dreck bis über beide Ohren beschäftigt ist.
Harry kommt und sagt zu Derrick: “Etwas ist merkwürdig.”
Worauf Derrick wiederholt: “Ja, etwas ist merkwürdig.”
Weil Derrick nicht weiß, was merkwürdig ist, wartet er auf das, was Harry als nächstes sagt.
Harry sagt: “Dass man dich nicht getroffen hat.”
Daraufhin sagt Derrick sofort: “Das finde ich auch.”
Der Gedanke ist unzulässig, dass der Attentäter folglich nur eine Frau sein kann, weil Frauen ja ein nicht so zielstrebiges Naturell wie Männer haben, und es ihnen mehr um Aufmerksamkeit denn um das Töten geht, es also mit hoher Wahrscheinlichkeit die Putzfrau sein kann, weil sie es satt hat, dieses Kotzeschrubben und Eiterkrusten aus Kaffeetassen kratzen und die versifften Inkontinenzlaken zu bügeln – dieser Gedanke ist hier unzulässig, weil ein anderer alter Mann der Täter ist. Dies entpuppt sich aber erst, nachdem Derrick eine Wohnung besucht, in der junge Leute mit Dauerwellenfrisur und überbreiten Schulterpölstern umherstehen, und jemand zu Derrick sagt: “Sie sind nicht gut für die Stimmung.”
Worauf Derrick sagt: “Ja, ist ja gut, na was ist denn das? Ne Party oder sind die alle nur zufällig hier?”
Heute war ein perfekter Tag für das kleine Kind. Es hatte die Sonne vom Himmel gelacht, die Vögel zwitscherten und es war warm. Das Kind hatte sich auf sein Fahrrad gesetzt und war losgefahren. Es hatte so viel Spaß gehabt, dass es gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Plötzlich hatte es aber Hunger bekommen und war nach Hause gefahren, um etwas zu essen.
Nach dem Essen hatte es sich auf sein Bett gesetzt und gelesen. Es hatte so viel Spaß gehabt, dass es gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Plötzlich hatte es aber Schmerzen in seinen Beinen bekommen und war eingeschlafen.
Als es am nächsten Morgen aufwachte, war es kalt und dunkel. Das Kind war allein in seinem Bett und es war totenstill im Haus. Es hatte keine Ahnung, was passiert war. Es hatte nur noch diesen perfekten Tag im Kopf, an dem alles so gut gelaufen war.
Dieser Text wurde nicht von mir geschrieben, wurde von keinem Menschen geschrieben. Dieser Text wurde maschinell erzeugt. Auf openAI.com hatte ich die Anweisung gegeben: “Verfasse eine sehr traurige Geschichte über einen perfekten Tag eines Kindes”. Später probierte ich es wieder, mit derselben Anweisung.
Eines Tages, als das Kind gerade ein Jahr alt war, hatte es einen perfekten Moment. Es saß auf seinem Spielzeugpferd und ritt durch die Wohnung, während seine Mutter ihm zusah. Sein Gesicht war voller Freude und Glück. Doch dieser Moment währte nur kurz. Das Kind war kaum zwei Jahre alt, als es bei einem Autounfall ums Leben kam.
Nun gab ich folgende Anweisung: Verfasse eine Kurzgeschichte zum Thema “Der perfekte Moment“
Der perfekte Moment ist eine seltene Erscheinung. Manchmal ist er so kurz, dass man ihn kaum bemerkt. Aber wenn er da ist, dann weiß man es. Man spürt die Leichtigkeit des Moments, die Freude, die in der Luft liegt. Alles scheint möglich zu sein.
Für Mia war dieser Moment am Strand. Sie lag in der Sonne, die Wellen rauschten leise im Hintergrund und sie fühlte sich so leicht, so glücklich. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie fliegen.
In diesem Moment wusste sie, dass alles möglich war. Sie konnte sich ein neues Leben ausmalen, mit einem neuen Job, einem neuen Partner. Sie war bereit für einen Neuanfang.
Aber der Moment verging und Mia musste wieder in die Realität zurückkehren. Die Leichtigkeit und die Freude blieben zurück, aber nun wusste Mia, dass sie diesen Moment festhalten musste. Denn er kam nicht immer wieder.
Blau ist meine Lieblingsfarbe von dem Himmel, der sich in der Nacht über die Stadt legt und so ein blau hat, das dünner und dünkler wird weil seine Farbe am Abend ausrinnt an den Silhouetten von Hochhäusern und Bahnhofstoiletten und hinein sickert in die Gullys und gluckert mit dem Urin aus den tausenden Penisen von Männern, die mit nackten Stirnen an kalten Kacheln der tausend Toiletten lehnen die Augen geschlossen ihre Müdigkeit in den Fingern und gerade noch so viel Kraft dass sie ihre Penise halten und das Gelb ablassen dass es sich unten tief tief unten im Gedärm der Stadt mit dem Blau vermengt und darum liebe ich Gelb.
Es war einmal ein König, der über ein großes Königreich herrschte. Er war ein weiser und gerechter Herrscher, und sein Volk liebte und respektierte ihn. Er war immer bestrebt, sein Reich zu verbessern und sein Volk glücklich zu machen. Seine Regentschaft dauerte 10 Jahre, und es waren friedliche Jahre voller Fröhlichkeit und Zuversicht.
Eines Tages erhob sich eine Gruppe von Rebellen gegen ihn und stürzte ihn. Der König war gezwungen sich zu verstecken. Er schwor, eines Tages zurückzukehren und sich das zurückzuholen, was ihm rechtmäßig gehörte. Er fand Unterschlupf im Schloss seiner Lieblingstochter. Sie war eine schöne und stolze Prinzessin, die alles für den Vater getan hätte, Sie stellte sich todesmutig den finsteren Schergen entgegen, die das Schloss brandschatzten. Sie wurde gefoltert und geblendet. Aber sie hatte dem König durch ihr Leiden etwas Zeit verschafft, so konnte er fliehen und die Tochter starb an inneren Verletzungen.
Die Rebellen verfolgten den König bis in den letzten Winkel des Königreichs. So muss er schweren Herzens seine Heimat verlassen. Nachts schwamm er mackt über den Grenzfluss. Mit letzter Kraft erreichte er das Ufer. Hilfsbereite Menschen gaben ihm trockene Kleidung. Reichten ihm Essen und fragten ihn nach seiner Herkunft. Als er ihnen eröffnete, dass er der König sei, da erschlugen sie ihn, aus Angst vor den Rebellen. Sie händigten seinen Leichnam sogar den Rebellen aus und wurden aber doch von ihnen im Fluss ertränkt -denn es könnte ja sein, dass der König seine Geschichte erzählt hätte, und keiner dürfte die Geschichte des Königs kennen.
Aber ein kleines Fischermädchen rannte schnell in den Wald. Es entkam den Schergen, und nach zwei Wochen kehrte das Mädchen zurück zu seinem verbrannten Dorf. Von nun an führte es dort das Leben einer einsamen Fischerin. Das Mädchen wurde alt, und am Totenbett erzählte es die Geschichte ihrem Fischgroßhändler, der die Worte auf kleine Zettel schrieb und in ausgenommene Fischbäuche stopfte. So ein Fisch mitsamt der Botschaft landete auf der Tafel eines Rebellen. Daraufhin würden Fischerdörfer auf beiden Seiten des Grenzflusses niedergebrannt und alle Einwohner getötet. Aber die, die das Massaker von weitem beobachtet hatten, die gründeten eine Kirche und schrieben ein heiliges Buch und wanderten in staubigen Gewändern durch die Täler und rüttelten die Leute durch ihre Predigten auf und wurden allesamt gekreuzigt. Ihre heiligen Bücher wurden verbrannt.
Eines aber hatte ich gefunden, im Nachlass meines Onkels, den irgendjemand mit der Spitzhacke erschlagen hatte. Natürlich schwieg ich, keinem erzählte ich von meinem Fund, und dennoch passierte es, dass man mich meiner Familie beraubt hatte. Und so denke ich: es musste doch einen Sinn haben, dass ausgerechnet ich noch am Leben war!
Darum erzähle ich euch diese Geschichte.
Ihr, die mir zuhört, wundert euch nicht, wenn übermorgen nachts eure Türen eingetreten werden, denn man möchte euch auslöschen und mit euch all jene, denen ihr etwas von der Geschichte erzählen hättet können.
Aber der eine oder andere von euch wird sich im letzten Moment verstecken, wird die Geschichte am Totenbett erzählen, seinen Enkeln vielleicht, und wenn das Schicksal es will, wird eines dieser Enkelkinder überleben, weil es gerade rechtzeitig gelernt hat, mit der Waffe umzugehen, und es wird die Geschichte des Königs weitertragen.
Die Deutschschularbeit begann damit, dass die Frau Professor die Zettel mit den drei Themen austeilte. Das Dritte Thema war wie immer eine Gedichtinterpretation. Das zweite Thema war etwas politisches, da kannte ich mich nicht aus. Und das erste Thema hieß: “Mein schönstes Ferienerlebnis”. Das musste ich also nehmen. Ich schrieb den Titel in das Heft. rund um micht zähe Atmen, das Kratzen von Federn auf Papier, die Schritte der Professorin, und draußen, die geöffnetes Fenstern, der Herbst, das Laub und die Autos. Mein schönstes Sommererlebnis. Also: ich musste an die Sommerferien denken. Die bestanden aus Juli und August. Schade, denn im Juni war ich bei Tante Roberta zu Besuch, und sie hatte diesen herrlichen Rehrücken immer. In Juli war ich nicht auf Besuch bei ihr, im August auch nicht, denn sie war ja in Juli niedergefallen und dann bei der Operation hatte sie sich im Krankenhaus einen Keim eingefangen, darum hatte man ihr das Knie und dann den Oberschenkel abgeschnitten und am Ende war nichts mehr von ihr übrig, so dünn war sie. Als ich sie besucht hatte, hatte sie geschrien wie ein Kind. Darüber konnte ich also nicht schreiben.
Ich schaute auf die Uhr über der Tafel. Zehn Minuten schon vergangen, und die Stunde hatte ohnehin nur fünfzig Minuten in Summe, also noch vierzig Minuten. Ich musste weiterdenken.
Im Juli waren wir am Land draußen. Woran konnte ich mich da erinnern? Der Regenwurm, den ich zerteilt hatte mit der Schaufel, weil meine Großmutter gemeint hatte, dann würde der Regenwurm wie zwei Regenwürmer weiterleben. Was nicht stimmte. Beide Hälften verendeten. So wie bei Tante Roberta, bei der das Bein abstarb und auch der Bauch mit Kopf und Armen.
Ich schaute auf die Uhr über der Tafel. Nur mehr fünfunddreißig Minuten. Ich hob den Arm und die Professorin kam her. “Mir fällt nichts ein”, sagte ich.
“Ach geh, schreib irgendwas, was passiert ist. Es muss nicht lang sein.”
Also schreib ich von dem Hund, den von der alten Frau Kmeiner, der alleine im Dorf herumgestreunt, weil die alte Frau Kmeiner zu alt ist, um ihn Gassi zu führen. Mit einer Wurst habe ich ihn in in den Garten gelockt, dann eine Kiste drüber und Erde drübergeschaufel aber mit einem Loch für die Luft.
So schrieb ich und schrieb ich, meine Füllfeder kratzte über das Papier, Seite um Seite, wie ich meine Eltern dazu gebracht hatte, das Winseln zu überhören, und als einmal Stille war, hatte ich den Hund hatte. Seine Hundeaugen. Sein müder Kopf. Und die Ameisen und der Körper, der sich immer noch bewegt hatte – die Worte kamen nicht von mir, sondern vom Hund und mir gemeinsam, er war mir in diesem Moment beim Schreiben so nahe wie sonst nichts auf der Welt mit allem, was er fühlte und was ich tat – das war eines, und wie beide schrieben und schrieben und dann hörte ich die Frau Professor.
Sie sagte: “Abgeben, Wollinger!” – aber etwas in mir schrieb weiter, die böse Frau inzwischen zerrte das Papier vom Schreibtisch, ich schrie: “Verdammt, wir schreiben noch!” – Und weil sie keine Ruhe gab, hackte ich mit der Füllfeder auf ihre Greifhand ein, so wie ich in den Leib des Hundes gehackt hatte, um sein Leid zu beenden – und das gleiche hätte man mit Tante Roberta auch tun sollen, dann hätte sie nicht so schreien müssen wie die Frau Professor.
Und gerade als wir rund um den Weihnachtsbaum standen, als sich meine Frau an mich schmiegte, als wir unsere Kinder beobachteten, die sie sich über die Geschenke hermachten, als ich also neben ihr stand, meinen Arm auf ihre Schulter legte, da rutschte mir die Hose ein Stückchen hinunter.
Und mir schoss es ein: ich hatte meinen Gürtel vergessen.
Ich umarmte meine Frau weiterhin, versuchte keine abrupte Bewegung zu machen, denn jetzt musste ich nachdenken. Ich brauchte einen Vorwand, um jetzt loszufahren.
Am besten mit Offenheit. Ich sagte meiner Frau: “Mir ist etwas peinliches passiert.”
“Was denn?”
Ich sagte ihr, dass ich ihr Geburtstagsgeschenk an der Tankstelle liegen gelassen hatte.
“Aber wir haben Weihnachten”, sagte sie.
“Ich meine dein Weihnachtsgeschenk, ich bin ganz durcheinander”, sagte ich. “Ich glaube, ich weiß, wo es ist. Ich würde das jetzt holen, damit es nicht jemand anderer mitgehen lässt.”
Einen schnellen Ehekrach später (“Das ist nicht dein Ernst, dass du jetzt wegfährst und mich mit den Kindern hier zurücklässt!”) saß ich im Auto und hatte keine Ahnung, was für ein Weihnachtsgeschenk ich meiner Frau nun mitbringen sollte, aber das war nur ein unbedeutendes Problem jetzt.
Ich fuhr eine halbe Stunde durch die Nacht, kurvte durch Ortschaften, und bei einem bestimmten Haus fuhr ich vorbei. Denn es hätte ja sein können, dass Licht brannte. Es brannte aber keines.
Also parkte ich, aber nicht allzu nahe. Ich ging durch das Dunkle, das Kalte, den Blick erhoben, ob da nicht doch etwas war. Ich zog mir die Golfhandschuhe an. Ich horchte nochmals. Aber es war nichts. Ich betrat den Garten, ich ging um das Haus und im Kellerfenster stieg ich ein, mit dem Licht einer kleinen Taschenlampe. Ich schlich die Treppe empor, öffnete die Tür zum Vorraum – eine kleine Bewegung, wie eine Katze, Atem anhalten, hören, ob da jemand – nein, nichts.
Ich ging weiter ins Schlafzimmer. Ich knipste das Licht an. Licht war gar nicht so schlecht, die Nachbarn durften wohl sehen, dass jemand da war, dass alles in Ordnung war. Denn Anna war ja auch hier. Bäuchlings lag sie auf dem Bett. Um ihren Hals ein Gürtel. Mein Gürtel. Ich zog ihn ab, schnallte ihn mir an die Hose. Wie konnte ich so blöd gewesen sein. Der Gürtel begleitete mich schon jahrelang und hatte weißgott welche Spuren an sich. Da sah ich an Annas Nacken die Halskette. Ja, das wäre eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk. Ich nahm Anna die Kette ab.
(Epilog)
Aber das war aber nichts ohne Geschenkpapier.
Ich ging ins Wohnzimmer, und es roch immer noch nach Zimt. Es roch auch nach Urin. Ich nahm das größte Geschenk, schälte es vorsichtig aus dem Papier, damit nichts riss. Es war ein Puppenhaus. Aber mir ging es ja nur um das Papier. Ich packte die Kette ein, und als ich fertig war, da fuhr mir wieder eine Gedanke ein: Ein Puppenhaus war für ein Mädchen, sicherlich. Aber die Kinder dieser Anna, das waren doch zwei Jungs, oder? Oder irrte ich mich? Also zog ich den beiden Leichen die Plastiksäcke von den Köpfen. Eindeutig, das waren zwei Jungs. Mir kam ein Verdacht. Dass es noch ein Kind gab. Ein Mädchen, das hatte sich irgendwo noch versteckte. Oh ja, Kinder konnten so zäh sein!
Ich rief mit verstellte Stimme: “Polizei! Ist hier jemand?”
Dann war mir, als hörte ich etwas, von oben. Ich nahm meinen Gürtel ab und und stieg die Treppe empor in den ersten Stock. Nachher würde ich mich unbedingt duschen müssen, meine Frau hatte ja eine gute Nase.
Als ich endlich daheim war, bedankte sich meine Frau für die Kette, meine Tochter für das Puppenhaus, und mein Sohn, der war ohnehin in seinem Zimmer. Ich umarmte meine Frau und merkte, dass meine Hose ein wenig hinab rutschte. Ich hatte meinen Gürtel vergessen.
Die Vermieterin wusste schon, welche Zeitung ich gerne las und brachte sie mir, gemeinsam mit dem Körbchen mit den Semmeln, mit diesen handgroßen Kaisersemmeln. Das mochte jetzt kitschig klingen, aber dieses fünfzeilige Spiralmuster, das war Österreich für mich … Zuerst noch meinen ersten Schluck vom schwarzen Kaffee (der nicht zu stark war, ich trank gerne zwei Tassen), und nun begann ich mit der ersten Semmel. Ich drückte mit dem Daumen auf eine der Wölbungen, hörte dieses resche Knacken und spürte die Krustensplitter, so wie du das nur mit wirklich frischem Gebäck erlebst. Ich schnitt die Semmel auf. Beide Hälften legte ich auf den Teller, die Kruste nach unten, die weiße, weiche Teiglandschaft nach oben. Das war Vorfreude! – Meine Lieblingshälfte war die dicke. Ihr zupfte ich ein Stück weichen Teig heraus und naschte. Mit dem Messer schabte ich Locken vom Butterquader und schmiegte sie auf dieses weiche, zarte, frische Weiße. Und nun die Marmelade. Von der Vermieterin eingekocht. Auf jedem Glas ein weißes Etikett mit rotem Herz. Obenauf die weiße Stoffhaube. Drinnen ein Schuss Marillenbrand. Das hatte nichts mit dem üblichen Aprikosenkonfitürezeug zu tun, das großteils aus Kürbisfleisch bestand. Das hier war aus Wachauer Marillen. Mit ganzen Fruchtstücken. Nicht mit dem Messer streichst du die Marmelade auf die Semmel, sondern mit dem Löffel hebst du die Fruchtstücke aus dem Glas. Das Saftige wird ein wenig vom weichen Semmelteig aufgesogen – und dann der erste Biss. Herzhaft hinein in das tiefe Weiche, das zugleich leicht knusprig war. Mit dem Kauen eröffnete sich die Marmelade mit all ihrer Süße, und ich spürte den leichten Widerstand der Marillenstückchen. Ich spürte das Harte, das Knusprige und zugleich das Sanfte, Weiche, und alles wurde getragen von dem runden, umrahmenden, umschließenden, satten Geschmack der Butter: Umami.
Im Blindtest würde ich versagen. Eine normale Marillenmarmelade im Vergleich zu diesen Wachauer Marillen. Das würde auch so mancher nicht unterscheiden können, der gut riechen konnte! Und für mich, der keinen Geruchssinn hatte? Für mich, der seit der Geburt eine taube Nase hatte?
Für mich machte es einen Unterschied. Dass die Fruchtstückchen wie Marillenstücke aussahen. Dass jedes Glas ein weißes Etikett mit rotem Herzen hatte. Dass obenauf liebevoll die weiße Stoffhaube gesetzt war. Und dass das Glas fünf Euro kostete, und nur dreiviertel so viel drinnen war wie bei dem Zeug, das ich im Supermarkt am Bahnhof kaufen konnte. Und alleine zu wissen, wie exklusiv das war, und dass es Reichtum war, hier sein zu dürfen und mit der Marmelade nicht sparen zu müssen – das machte für mich den Unterschied! Den ich nicht roch. Na und? Aber ich nahm ihn wahr. Mit jedem Bissen. Denn ich kaute langsam. Ich gab dem Gefühl die Möglichkeit, sich in mir auszubreiten – Ruhe, Wärme, und das ist doch dasselbe, worum es beim Riechen auch ging, nicht wahr? Um Gefühle. Um Wahrnehmen. Ich roch mit den Augen, mit dem Geschmack, mit den Fingern, mit allem.
Aber die Salsa! Beim den Standardtänzen hingegen hörte ich, wann ich den ersten Schritt setzen musste. Denn da gab es nicht so viele Taktschläge, zwischen denen ich etwas falsch machen konnte. Aber die Salsa! Da kriegte sich der Mann an den Trommeln gar nicht mehr ein, es klang wie wenn ein ekstatischer Derwisch so flink auf die getrockneten Tierhäute einschlug, dass sich seine Hände für das Auge im Dunkel auflösten, und sein Kopf legt sich zur Seite, sein Blick weitete sich ins Weiße, und er sang hell und kräftig von seinem schmerzhaft dringlichen Anliegen, seine Stimme war unentrinnbar, seine Worte aus einer Sprache, die es nie gegeben hatte, die konkrete Bedeutung selbst für Eingeweihte irrelevant, denn alles versank hier in der Bar und darum musste jeder diese Schritte machen, um nicht tiefer zu sinken, zuerst den linken Fuß zurück. Aber ich vermochte in dem wirren Trommelgetue keinen Takt herauszuhören, so, als würde nur ich etwas nicht sehen, nämlich dieses geheime Zeichen des Derwischs, der – für andere Tänzer völlig klar – diesen besonderen Augenblick des ersten Schritts vorgab: Eins. Zwei Drei. Fünf Sechs Sieben. Und Eins. Eine Zählweise, die keine Vier und keine Acht kannte. Wohl hatte ich viel Erfahrung mit Lateintänzen, Cha Cha Cha zum Beispiel, und Ruma begann ja auch auf Zwei, da war die Eins ein Schritt den man nicht tat, das war auch schwierig, das hatte auch Wochen gebraucht bis ich es gekonnt hatte. Und ich war gut Boogie, diesen ausgelassenen, wilden Tanz, dessen Drehungen ich in der Salsa wiederfand, klar, denn Boogie gab es lange vor der Salsa – aber verdammt noch mal, warum gelang es nicht? Dieser kleinlaute Unterschied zwischen Latein und Latin war Abgrund und Berg, war Blindheit meiner Ohren, war, dass nichts mehr galt, womit ich in den letzten Jahren verlässlich getanzt und gepunktet hatte. Das hier war zurück ans Damals, als ich nicht nichts konnte und nichts kannte. Schlimmer noch! Bei bei meinen Salsadrehungen schlitterte in den Boogie hinein, machte also einen Schritt zu viel, vorbei war es mit dem mühsam begonnen Takt. Am Drehungsende stand ich auf dem falschen Fuß, und wie der letzte Tanzidiot musste ich schummeln, mit Blicken zu den Tanzlehrerfüßen mich hinkorrigieren, also von wegen Leichtigkeit, von wegen lateinamerikanische Fröhlichkeit. Ich musste mein altes Tanzen nicht nur vergessen, ich musste mich von ihm entlernen. Dabei wollte ich doch bloß mit Editha tanzen, weil sie meinte, ich sollte es tun. Nein, die Salsa, die würde ich nie, nie tanzen, die brauchte ich nicht, die war für kleinwüchsige Südamerikaner, für braunhäutige Kubaner, von mir aus für Spanier, aber ich hatte Englischen Walzer, Wiener Walzer, Foxtrott und Boogie, wozu brauchte ich denn mehr? Salsa, so schwor ich mir in dieser kellerhaften Tanzenge, würde ich nie wieder tanzen wollen müssen.
Da fiel mir letztens doch folgender Text in die Hände, der 2005 in der Leondinger Akademie für Literatur entstand. Die Aufgabe, die uns Gustav Ernst gab, lautete, eine Sexszene zu schreiben – jedoch frei von Innensichten. Es sollte nur gezeigt werden, was passierte, nicht, was empfunden wurde.
Ich erinnere mich noch an die Entrüstung, die mir von zumindest einer Akademieteilnehmerin als Aufschrei beim Vorlesen des Texts entgegenschlug – sie meinte auch, so etwas dürfe man bei der geplanten öffentlichen Lesung nicht bringen. Und Margit Schreiner nannte mich schmunzelnd den „Pornografen“ der Klasse, ein Kompliment, das ich freudig annahm.
Später nackt
Die Tür offen. Sie an der Schwelle. Zu ihm herauf sehen, hallo kichern. Ihr Mantel an den Kleiderhaken, seine Finger durch ihre Haare.
Faust.
Ihren Kopf nach hinten ziehen.
Er zu ihr, mit seinen Lippen.
Ihr die Augenbinde reichen. Sie kopfschütteln. Wenig nur. Wegen Faust in ihren Haaren. Dann doch die Augenbinde.
Im Wohnzimmer auf die Couch und ihm dies erzählen und ihm das erzählen und ungewohnt hier für sie. Sein Kopfnicken, sein Erklären. Das Sicherheitswort. Rot sei es. Rot sagen und aus. Alles nur Spiel und alles nur wenn gemeinsames Wollen.
Sein Sprechen über Vorfreude, Moment vor dem ersten Schlag, Vorfreude wie Weihnachten. Ihr empörtes aber hallo! Sein Streifen. Über Oberschenkel, über Weiches. Hand heben. Schlagen.
Später nackt. Sie. Über der Couch knien, Brust auf Sitzfläche, Arme seitwärts gestreckt, Handgelenke fixiert. Rot das Klebeband. Augenbindengummibänder wellen Frisur. Er. Über sie beugen. Seine Hände wo ihre Hände, sein Gesicht wo ihr Kopf, seine Brust wo ihr Rücken. Sein Schwanz wo ihre Vagina. Noch immer.
Entlangstreifen seiner Hände. Über Arme, über Schultern, über Rücken hin zu Po. Warm. Handabdruck Konturen. Sein Loslassen, aufstehen, dicke Kerze holen. Mit Feuerzeug Feuer. Weihnachtskerzenweiß. Warten auf Wachssee.
Seinen Schwanz hineindrücken, diesmal anders.
Sie nein. Zerren an rotem Klebeband. Handgelenke rot.
Weiterwarten auf genügend Wachs im Wachssee.
Über Rücken die Kerze.
Die Kerze kippen.
Ausrinnen.
Wachs und Schrei.
Rücken wölben und Finger fäusten.
Dann Warten. Bis genügend Wachs im Wachssee.
Christian war ans Meer gegangen, und nun stieg er bloßfüßig über die Felsen in Richtung Wasser, seine Arme balancierend zur Seite gestreckt, um ja nicht zu fest aufzutreten, der Fels könnte scharf sein. Aber nichts war scharf, bloß rau war es, und zum Glück war es rau, denn deshalb war es auch nicht rutschig, an jenen Stellen, wo die Wellen die flachen Felsen überspülten, immer wieder überspülten. Er erreichte die verchromte Leiter mit dem gebogenen Handlauf. Er stieg zwei Stufen hinab, und als er mit den Knien im Wasser war, ließ er sich hineinkippen. Er hob sich die Schwimmbrille an die Augen, und das grelle Licht erschien milder.
Er legte sich auf den Rücken, das Kinn zur Burst gedrückt. Er schaute auf seine Zehen und auf das Motorboot, das von seinem rechten Fuß hin zum linken fuhr und dabei eine weiße Linie auf dem Wasser hinter sich herzog. Christian senkte seinen Hinterkopf ins Wasser, er hörte und spürte das Glucksen an seinen Ohren, und jetzt, wo er gänzlich da lag, ohne Spannung, da fühlte er sich gebettet, in etwas Kühlendes, in etwas Schaukelndes, in etwas, das es am Ende doch noch gut mit ihm meinte.
Die Wellen, die das Motorboot hinterlassen hatte, erreichten ihn und streiften über seinen Mund und seine Stirn. Das Meer schmeckte gar nicht salzig, sondern hatte eher etwas Süßes mit einem leicht bitteren Abgang. So lag er da, mit gegrätschten Beinen, mit ausgestreckten Armen, nur ab und an machte er eine paddelnde Bewegung, wenn er meinte, etwas unternehmen zu müssen.
Er hielt sich die Nase zu, rollte sich auf den Bauch, schaute hinab und sah, wie weit es unter ihm war. Er hörte ein Knacken. Ein unentwegtes Knacken. Als würde jemand auf Erdnussschalen umhertreten. Kam das von knabbernden Fischen? Oder von der Strömung, die Steine gegeneinander schob?
Über dem Meeresboden spannte sich ein Geflecht aus Sonnenlicht, dessen helle Knoten sich ausdehnten und zusammenzogen, sich hin und her schoben, sich aneinander rieben oder verharrten, und das alles passierte gemeinsam mit den Wellen und diesem Funkeln, das sich darüber abspielte.
In der Schule gab es die Aufgabe, ein Hörspiel zu schreiben. Instinktiv wählte ich eine Handlung, die sich gut zum Hörspiel ein passt – eine, die in absoluter Dunkelheit passierte. In einem Aufzug, der stecken blieb.
War ich damals vierzehn? Ich denke, es war noch in der Unterstufe, als ich das geschrieben habe.
Ich begegnete Bettina im Keller des La Cabaña, und schon an ihrem ersten Blick spürte ich, dass sie mich nicht wiedererkannte – ja wie denn auch, ich war ja erst neun gewesen, als sie mich verlassen hatte. Ich ein Bub, aber sie immer schon Frau gewesen, und heiraten hatte ich sie wollen. Aber im Laufe der Jahre dachte ich eigentlich überhaupt nicht mehr an Bettina. Außer, wenn im Supermarkt Kirschenzeit war – ich war so gern mit ihr auf unseren großen Kirschenbaum geklettert und hatte Kirschen gebrockt, damit uns die Waltraud einen gezogenen Kirschenstrudel machte. Oder wenn ich im Fernsehen etwas über Ausgrabungen sah – denn Bettina hatte Archäologie studiert, wie ich von Vater erfahren hatte. Zuletzt kam sie mir letzten Dienstag in den Sinn, aber das war nur purer Zufall, denn da war ich im Gehsteiggedränge grundlos hinter einer schlanken Frau hergegangen, ihre dunklen Haare vom Haarband zusammengebunden, und ihr Rossschwanz war hin und her geschwungen, tänzelnd an ihren Schultern im Rhythmus der wippenden Schritte.
Als ich in den Tanzsaal des La Cabaña betrat, saß Bettina auf einem Hocker an der Bar. Sie sah nicht in meine Richtung, sondern zu den vier Fotos des Ché Guevara an der Wand gegenüber, über den Spiegeln. Ich stellte mich neben Bettina. Um zu sehen, was passierte. Sie verschränkte die Arme. Ich fragte sie, ob sie hier zum Tanzkurs gekommen sei. Sie sagte: »Ja«.
Sie sah mich an. Aber nur so lange es eben brauchte, um den jungen Mann wahrzunehmen, zu dem man soeben irgendetwas gesagt hatte. Da war kein Wiedererkennen, nicht einmal der Hauch einer Irritation. Sie schaute dann wieder zu Ché.
Ich wollte sie fragen, wie sie hieß aber wollte sie keineswegs nach ihrem Namen fragen, um mich keiner Illusion zu berauben – zugleich musste ich es wissen, sonst gab es keine Ruhe… Würde ihr Freund gleich hereinkommen? Wenn sie tatsächlich alleine hergekommen war, um Salsa zu lernen, dann durfte ich sie mir nicht von einem anderen wegschnappen lassen. Ich durfte sie nicht aus den Augen verlieren. Ruhig sein, Richie. Einatmen. Ausatmen. Ablenken. Etwas tun. Ich zählte die Männer und Frauen, die hier herumstanden und wohl alle auf den Kursbeginn warteten. Einundzwanzig waren es. Mit mir zweiundzwanzig. Und dreiundzwanzig mit Bettina.
Die Tanzlehrerin stand plötzlich mitten im Saal, eine quirlige Frau auf weißen Turnschuhen und mit einem fleischfarbenen Mikro an der Wange. Sie erzählte ein wenig über die Salsa, und gleich stellte sie sich vor die Spiegelwand, mit dem Rücken zu uns, und wir alle sollten mit ihr die Grundschritte üben. Bettina rutschte vom Hocker und ging ganz nach vor, damit sie gleich hinter bei der Lehrerin stand.
Ich stellte mich hinter sie. Wir machten unsere Schritte, und die Lehrerin taktete unsere Bewegungen mit durchdringender Mikrofonstimme.
»Eins zwei drei. Fünf sechs sieben.«
Den Rückwärtsschritt, den wir bei eins zu machen hatten, tanzte die Lehrerin dermaßen auslandend, als ginge es darum, dass wir irgendwelche Widerstände zertraten. Dagegen wirkten Bettinas Schritte zögerlich und schüchtern, denn ihre Beine waren noch steif, ihre Schultern wippten, weil ihre Hüften noch nicht mit den runden Bewegungen einer Salsa vertraut waren. Bettinas Blick ging sprang zwischen Lehrerin und Spiegelwand umher, um sich bei jedem Schritt zu versichern, dass er stimmte. Ich schaute beim Tanzen auf Bettinas Nacken. Ihre dunklen Haare waren mit einem weinroten Haarband zusammengebunden, der Rossschwanz schwang hin und her. Nach einer halben Stunde rief uns die Lehrerin auf, zum Partner zu gehen. Ich war sofort bei Bettina und fragte, ob ich mit ihr tanzen durfte.
Sie nickte.
Wir standen einander gegenüber.
Ich ergriff ich mit meiner linken Hand Bettinas rechte Hand, mein Blick in ihr Gesicht, und ihr Blick abgewendet zur Tanzlehrerin.
Eins zwei drei.
Fünf sechs sieben.
Bei eins gingen wir auseinander, weil wir beide einen Schritt zurück machten. Bei drei wieder zueinander. Bei fünf noch weiter zueinander, so nahe, dass ihr linker Fuß zwischen meinen Füßen stand. Die freien Hände angehoben, Handfläche an Handfläche, und bei sieben kam das sanfte Abstoßen mit einem Schritt zurück, damit es wieder bei eins beginnen konnte. Und die ganze Zeit hielt ich ihre rechte Hand. Die Lehrerin ging zu jedem Paar und griff ein, wenn es etwas zum Korrigieren gab. Dann rief sie dem DJ etwas zu, in Spanisch. Wir waren offenbar bereit, erstmals zur Musik zu tanzen. Der DJ beugte sich über sein Pult und startete ein Lied aus Trommelschlägen und Trompeten. Zum »Eins – Fünf – Eins – Fünf« der Lehrerin setzten wir unsere Schritte. Ich spürte Bettinas Unsicherheit, also führte ich sie so deutlich, dass sie nicht auskam, im richtigen Moment den richtigen Schritt zu machen. Bettina hob den Kopf und lächelte zu mir herauf. Im mir weitete sich etwas, mit den Taktschlägen und dem Eins und dem Hin und Fünf und dem Zurück.
Nach der Tanzstunde kam meine wichtigste Frage.
»Darf ich dich noch zu einem Cocktail einladen?«
»Ja.«
Wir gingen zur Bar, setzten uns auf Hocker und bestellten. Die Tanzfläche leerte sich. Wir beobachteten den Barkeeper, wie er mit Minze und Limetten hantierte und Rum eingoss. Er stellte uns die Cocktails hin, ich zahlte, und Bettina sagte: »Danke«.
Sie nahm ihren Mojito, hob ihn sich an den Mund, wandte sich zur Spiegelwand gegenüber. Ihre Lippen umschlossen einen Strohhalm. Sie schaute auf die Fotoserie mit dem lachenden Ché, mit dem verschmitzt dreinschauenden Ché und mit einem Ché, der den Rauch seiner Zigarre genießerisch zur Seite bläst.
Sie fragte: »Warum hängt der da?«
»Wo soll man ihn denn sonst hinhängen?«
»Er war ein Massenmörder.«
»Das passt ja.«
»Wie meinst du das?«
»Drüben im Burggarten steht das Denkmal von dem Mann, der Österreich in den zweitblutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte geschickt hat.«
»Wen meinst du?«
»Kaiser Franz Joseph.«
Sie nickte.
Ich sagte: »Ich heiße Richie, übrigens.«
»Ich heiße Bettina.«
Ich schluckte. Ich griff nach meiner Caipirinha. Ich sog allen Alkohol aus den Eiszwischenräumen, bis das schlürfende Geräusch einsetzte. Diese Frau war also tatsächlich Bettina. Ich schaute in ihre Augen. Die Iris scharf umgrenzt von einer dunklen Linie, drinnen im Grün ein helles Geflecht. Bernsteinfarbene Flüsse, die einem schwarzen Zentrum zustreben. Waren ihre Augen schon früher so gewesen?
(Bald kommt die GRAUKO-Schreibwoche in Kroatien. Bin gerüstet mit Mindmaps. Und nun mit obiger, neuerlichen Fassung des Romanbeginns von „Das tiefe Dorf“)
Dies ist ein Kapitel aus meinem Romanprojekt „Violanum“. Timon, der Ich-Erzähler, lebt mit Dagmar, ihrer 14jährigen Tochter Angelika und dem achtmonatigen Pflegekind Dorian in Friedstatt. Timon hat übrigens keinen Geruchssinn. Zu Besuch kommt Christian, Angelikas neuer Freund.
Es kam der Tag, an dem Christian bei uns zum Abendessen eingeladen war. Ich pürierte die Kartoffel mit dem Stabmixer, Dagmar kümmerte sich um die faschierten Laibchen. Angelikas Lieblingsspeise. Und auch meine. Ich mag alles, was ich nicht schneiden und beißen muss. Der Marillenkuchen war längst fertig und stand – noch warm – auf der Arbeitsplatte. Angelika kam herunter, in Jeans, und dann kam sie wieder, aber in einem Rock diesmal. Einmal waren ihre Lippen rötlich, dann wieder trug sie transparentes Gloss. Sie fragte Dagmar, wo denn die Kerzen wären. Und keiner von uns dürfte unter irgendwelchen Umständen in ihr Zimmer! Dagmar reichte ihr eine Schachtel und sagte, sie solle aufpassen, dass sie das Haus nicht abfackele.
Dagmar flüsterte mir zu: »Hast du ihr Parfum gerochen? Als hätte sie darin gebadet.«
»Ich habe nichts gerochen.«
»Aber es riecht doch so stark … ach ja. Entschuldige, bitte.«
»Liebe heißt, sich niemals entschuldigen zu müssen.«
»Love Story«, sagte Dagmar. »Endet nicht gut.«
Dorian krabbelte uns zwischen den Beinen umher und wollte beim Kochen mithelfen. Der Stabmixer und das spritzende Kartoffelpüree hatte es ihm angetan. Ich hob ihn zum Herd, damit er die brutzelnden Fleischleibchen mit dem Bratenwender wenden konnte. Ich gab ihm zu kosten, so lange, bis er vorab schon satt war. Dann gab ich ihm noch sein Fläschchen. Beim Saugen rieb er sich die Augen. Dagmar bat Angelika, den Tisch zu decken, aber Angelika, irgendwo oben, rief, sie habe keine Zeit jetzt. Als Dorians Fläschchen leer war, wickelte ich ihn und brachte ihn in sein Zimmer. Ich blätterte mit ihm noch ein Buch über Tiere im Wald durch, dann gab ich ihm einen Kuss auf die weiche, warme Stirn und bettete ihn im Gitterbett neben seine Stoffsonne. Ich ging hinaus. Er fing zu weinen an. Er weinte all die Minuten, während denen ich unten im Wohnzimmer den Esstisch deckte. Sein Weinen war kein zorniges oder unwilliges, sondern dieses Tränenlose, und es klang eher wie ein Abschiednehmen von einem wunderbaren Tag, und darin war etwas von der Melancholie, die in jedem Sonnenuntergang mitschwang. Ein Tag weniger im Leben, und gleichzeitig eröffnet eine frische Nacht die Chance auf einen wunderbaren Morgen. – Er lachte mich an, als ich wieder oben bei ihm war, um nach ihm zu sehen, um ihm den Rücken zu streicheln. Lachen und Weinen in Dorian – beides so federleicht nebeneinander, so wie eben mehrere Stimmungen in einem Menschen zur selben Zeit sein konnten. Mit dem Unterscheid, dass Dorian seine Stimmungen mit uns teilte, spontan und ohne Gedanken. Er brabbelte, ich sagte ihm, dass er Recht hatte. Nach ein paar Minuten war er leise, als habe er sich vom Schlaf überzeugen lassen.
Unten, im Wohnzimmer, wurden mittlerweile die Minuten knapp. Angelika ging auf und ab, und als sie zu ihrer Mum sagte, sie sollte durchlüften, wegen des Küchengeruchs, da reichte es Dagmar, und sie schickte ihre Tochter hinauf: »Dein Stress ist ja nicht auszuhalten.«
Fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit stürmte Angelika hinunter – »Er kommt«, sagte sie mit versuchter Zurückhaltung. Es klingelte.
»Willst du nicht aufmachen?«, fragte Dagmar.
»Meinetwegen«, sagte Angelika.
Christian kam herein, mit weißem Hemd und einem Pullover um die Schultern. Er brachte eine kleine Kühlbox und reichte sie Dagmar.
»Danke«, sagte sie und öffnete den Deckel. Sie hob eine Plastikschüssel heraus. Darin lagen T–Bone–Steaks in Öl.
Christian sagte: »Das ist eine Geschenk von meinem Vater. Die Steaks sind seit drei Wochen eingelegt. Die sind so mürbe, die kann man fast schon ohne Messer essen.«
Dagmar dankte und schob das Plastik in den Kühlschrank.
»Die Kühlbox muss ich heute wieder mitnehmen, die gehört meinem Vater«, sagte Christian und trug sie hinaus, in den Vorraum, und stellte sie dort ab, wo er seine Schuhe hingestellt hatte. Wohl, um die Kühlbox ja nicht zu vergessen. Wir setzten uns zu Tisch. Dagmar und ich nebeneinander, gegenüber Christian und Angelika. Ich teilte das Püree aus dem dampfenden Topf aus, und als es zu den Faschierten Laibchen kam, sagte Christian: »Für mich nicht, bitte.«
»Warum denn nicht?«
»Ich esse Fleisch nicht so gerne.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, herrschte Dagmar ihre Tochter an.
»Es tut mir leid«, sagte Christian.
»Es geht nicht um Sie, Herr Christian, es geht um Angelika. Die ganze Zeit liegt mir meine Tochter mit allem Möglichen in den Ohren, aber das Wichtige erfahre ich natürlich nicht. Etwas Ayurvedisches hätte ich kochen können, oder … es tut mir leid.«
Angelika sagte: »Mum, ich habe es nicht gewusst. Echt nicht.«
»Ich mag Kartoffelpüree, wirklich«, sagte er.
Dagmar sprach das Tischgebet, ich verschränkte meine Finger unter dem Tisch und senkte den Blick, bis sie fertiggesprochen hatte. Als jeder von uns seinen ersten Bissen getan hatte, fragte ich: »Die Idee, uns Steaks mitzubringen, die hatte dein Vater, nicht wahr?«
Christian nickte. »Ich kann ja nicht mit leeren Händen das Haus einer Gefährtin betreten, hat mein Papa gesagt.«
Ich fragte: »Ist dein Vater ein Gefährte?«
»Nein.«
Er machte einen Bissen vom Kartoffelpüree und sagte: »Das schmeckt ausgezeichnet.«
Und dann sagte er: »Ich habe Papa gesagt, dass Angelika eine Gefährtin ist. Da hat er gesagt, Christian, pass auf, dass du das ja gut hinkriegst.«
Dagmar hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. Christians Blick bewegte sich tastend zwischen Püree, Angelikas Händen, seinem Glas Orangensaft, Dagmar und mir hin und her. Und in dieses Schweigen hinein sagte ich, wie toll ich es fand, dass Christian nun bei uns sei. Und dass Angelika so viel Positives erzählt habe, und so fragte ich ihn nach diesem und jenem, bis seine Antworten flüssiger kamen und er lächelte. Er erzählte sogar, dass er nach der Matura Veterinärmedizin studieren wolle, um den Tieren ein menschenwürdigeres Dasein zu geben. Ja, er sagte wirklich »menschenwürdig«.
Beim Marillenkuchen erzählte ich vom Vorschlag des Abts, eine Gedenkfeier für Alexandra zu machen. Dagmar fand die Idee sehr gut, typisch sei das für Abt Perntaz, der einem ja stets zu helfen wisse. Sie kannte ihn ja noch von früher. Und fand es schade, dass der Abt nun der Abt war, und dass sie es viel lieber gehabt hätte, er wäre Seelsorger in Friedstatt geblieben. Weil er zuhören konnte.
»Aber er ist schon ein verschlossener Mensch«, sagte sie.
»Wen meinst du?«
»Na, Abt Perntaz. Er ist offen, das merkst du an seinen Fragen. Aber er ist auch verschlossen. Mehr als zwei Sätze am Stück redet er nur, wenn er eine Messe liest«, sagte Dagmar.
Angelika sagte, dass sie bei der Feier für Alexandra dabei sein wolle. Aber mit Christian. Und Christian fragte, wer Alexandra war. So erzählte ich ihm von Bettina und von meiner toten Tochter, und da schaute er mir in die Augen, zum ersten Mal an diesem Abend. Dann war das Essen fertig, und Angelika fragte, ob sie nun ins Zimmer gehen könnten. Dagmar nickte. Angelika stand auf. Christian auch – aber Angelika sagte, er solle erst in zehn Minuten nachkommen.
Angelika ging hinauf. Christian blieb sitzen.
Ich fragte ihn, wie es denn käme, dass er Vegetarier sei. Bei einem Vater, der Fleischer ist, doch sicherlich nicht einfach.
Christian sagte: »Ich bin leider kein Vegetarier. Daheim geht das nicht. Mein Vater ist sehr engagiert. Biologische Landwirtschaft. Nachhaltige Viehzucht. Er hat gute Kontakte zu den Bauern und unterstützt sie sehr.«
Er nahm seinen Pullover, den er auf seine Stuhllehne gelegt hatte, in beide Hände. Hielt ihn mit beiden Händen vor seinen Bauch. Er sagte: »Ich war dreizehn. Da habe ich meinen Vater begleitet. Zu einem Bauern. Der hatte seine Kühe auf einer Alm. Es war ein wunderschöner Nachmittag mit Wolken und Sonne und Kühen und mit einem Geräusch.«
Christian ballte eine Faust, legte sie auf die Tischplatte. Und pochte. Tock. Tock.
»Ich habe mich umgeschaut. Wo so ein Geräusch herkommen konnte. Da war eine Kuh. Die stand an einem Gatter und schlug mit der Stirn gegen den Holzpfahl. Tock. Ich habe gefragt, was mit der Kuh los ist. Tock. Vor zwei Tagen hatte man ihr Kalb abgeholt.«
Christian beugte sich vor und flüsterte: »Man muss doch die Dinge selbst gesehen haben, nicht wahr? Aus eigener Anschauung. Das ist wichtig. Darum war ich einmal auf einem Schlachthof.« – Er atmete ein. Er knetete den Pullover. Er atmete aus. – »Ich habe das Töten gesehen. Ich habe das Schreien gehört. Ich habe das Bluten gesehen. Und das schlimmste war: ich habe sie gerochen. Diese Angst. Ich habe die Angst gerochen. Das ist nichts, was ich Angelika gleich erzählen wollte, oder? Das ist doch okay, oder?«
Ich nickte. Dagmar nickte.
»Aber bitte, sagen Sie meinem Vater nicht, dass ich kein Fleisch mag, ja?«
Ich wollte etwas sagen, aber dann nickte ich doch nur. Dagmar sagte: »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Ihr beide könnt euch ruhig duzen«, sagte ich und wies darauf hin, dass Dagmar mich monatelang und sehr hartnäckig gesiezt hatte. Dagmar lächelte.
»Ich bin Dagmar« sagte sie.
»Christian«, sagte Christian. Er räusperte sich. Er sagte: »Das Kartoffelpüree war ganz ausgezeichnet, Dagmar.«