Von Mühlen und Säften: Das momentane Gefühl für das Schreiben nutzen.

Manchmal ist die passende Emotion nicht greifbar – bin ich zum Beispiel verliebt, wie soll ich dann eine Szene über das Leiden eines Frischgeschiedenen schreiben?

Das trübste Wasser kann eine Mühle antreiben.

Aus jeder Zitrone kriegt man einen Saft.

Das bedeutet, ich nutze, was in diesem Moment an Emotion in mir verfügbar ist. Das ist ein reichhaltiger Ansatz.

Damit sind Müdigkeit, Deprimiertheit oder Glück keine Ausreden, den Schreibtisch zu verlassen – gerade bei einem Romanprojekt gibt es genügend Szenen, in denen jemand müde, deprimiert oder glücklich ist.

Ich kann sogar aus meinem Schreiballtag Emotionen gewinnen. Indem ich meine Einstellung zum Text auf die Empfindung einer Romanfigur umlege. Stellen wir uns vor: da ist eine Szene, die mag ich nicht schreiben. Also lege ich mein Nichtwollen in einen Protagonisten hinein: ich mag den Text nicht schreiben, und mein Protagonist etwa mag Großmutter nicht besuchen … und schon habe ich die passende Schreibhaltung gefunden.

Aber manchmal, da gibt die Zitrone keinen Saft und das Wasser ist selbst der Mühle zu trübe. In solchen Fällen schreibe ich lieber nicht.

Über das Schreiben reden oder nicht reden?

Es gibt Autoren, die reden über das, woran sie gerade arbeiten.
Es gibt Autoren, die tauschen sich nicht/kaum aus, über das, was noch nicht vollendet ist.

Zum Beispiel vorgestern. Literaturhaus, Podiumsdiskussion zum Thema Schreibprozess. Zwei Autorinnen, zwei Ansätze…

Michaela Falkner redet nicht über ein Werk, wenn es noch im entstehen ist. Alles macht sie mit sich selbst aus. Als sei das unvollendete Werk noch so fragil, dass ein vorzeitiges Besprechen alles zerstören könnte.

Verena Rossbacher hingegen redet gern über ihr laufendes Romanprojekt – durch das Besprechen des Werks verändert es sich. Sie sucht den Austausch. (Ihr literarischer Werdegang begann in der Schreibschule Leibzig, und Schreibschulen setzen natürlich voraus, dass die Teilnehmenden sich mit den Lehrenden und den Kolleginnen austauschen.)

Eine E-Mail an mich

Kritik am Text

Warum mein Text „funktioniert“, besser: auf-geht, oder auch nicht, weiß ich nur manchmal (d.h. ich kann klare Gründe dafür angeben).
Meist ahne ich nur (habe so im „Gefühl“): Der Text stimmt nicht. – Ich beginne an ihm zu arbeiten. Und plötzlich, ja unversehens, stimmt er. Das heißt: Er klingt. Er hat, was er vorher nicht hatte, einen Resonanzraum. Erst dann weiß ich: Ein Wort zuviel war’s oder zuwenig, ein Zu-viel-sagen-Wollen und Mehreres-gleichzeitig-erzählen-Wollen, was auch immer. – Es ist eine (mangelnde) musikalische Erfahrung am Text, die die Arbeit vorantreibt. Das hat natürlich nichts mit „Wortgeklingel“ zu tun, sondern mit dem, was der Raum zwischen den Worten gebiert.

Lieber Thomas,
ich bewundere Deinen Mut, Dein Schreibatelier zum öffentlichen Raum zu erklären. Gerne nehme ich auch weiterhin Anteil.
Viel Glück und liebe Grüße aus Wien, Rolf

Handwerkliche vs. ästhetische Kritik

Handwerkliche Kritik

Wir beurteilen, inwieweit der Text das Ziel erreicht, das sich der Text setzt.

Das Ziel wird nicht hinterfragt, sondern nur dessen Umsetzung mit Hilfe des vorliegenden Texts.

Ein Indikator für geringe handwerkliche Qualität ist, dass man Textteile kürzen kann, ohne dass sich an der Zielerreichung/Wirkung des Texts etwas ändert. (Was nicht bedeutet, dass ein solcher Text gekürzt werden muss – er kann auch ausführlicher gestaltet werden, um seine Wirkung zu entfalten)

Ästhetische Kritik

Wir beurteilen das Ziel, das sich ein Text stellt.

Hier hinterfragen wir sehr wohl, ob das Ziel passend | schön | gut | lohnenswert ist. Der Kritiker legt seine persönlichen Beurteilungsmaßstäbe an – diese unterscheiden sich je nach persönlichen Einstellungen und Werten der Kritiker.

Verlage beispielsweise beurteilen Manuskripte danach, ob sie zur Verlagslinie passen – wenn ein Verlag etwa nur Krimis verlegt, hat eine noch so gut geschriebene Fabel keine Chance verlegt zu werden.

Zu dieser Art der Beurteilung gehören Literaturrezension. Hier dominiert die persönliche Einstellung des Kritikers – und das ist ausdrücklich gewünscht.

Ästhetische Kritik kann dem Autor den Blick auf das eigene Werk weiten, kann ihm helfen, sich zu positionieren.

Heute schreibe ich nichts

(oder: Nichtschreiben als Teil des literarischen Prozesses)

Habe das Herumhirnen satt. Mich in ein herzkrankes Mädchen hineinversetzen, oder in Frauen, die ohne Väter aufwachsen und darum wahllos Männerbekanntschaften habe oder in einen Typen, dem seine Freundin verbrannt ist oder in eine Quasiheilige, die vor soundsovielen Jahrhunderten ein Spital gründet hat … ich sag’s euch, Leute, das ist manchmal anstrengend.

Lieber heute gar nicht!

Lieber Leben genießen. Hirn ruhen lassen. Denn:

Laster und Tugend sind für den Künstler Material einer Kunst.

(Oscar Wilde im Vorwort zu Dorian Gray)

Autobiografisch?

Niemals!

Mein Leben ist zu langweilig, und ich schreibe nicht aus therapeutischen Gründen. Habe ich etwa eine schwangere Freundin verloren? Bin ich eine Archäologin? Na also. Ihr seht: was ich schreibe, ist erfunden.

Nun, nicht gänzlich erfunden. Denn ich nehme, was ich in meiner Umgebung vorfinde. Persönlichkeitsstücke. Konflikte. Gespräche. Etwas von hier, etwas von dort. Aber das ist doch nicht autobiografisch, das stammt von anderen.

Die Gefühle, die ich beschreibe? Woher ich die nehme? Angst, Freude, Liebe … ich kann nicht genau wissen, wie sich das in anderen Menschen anfühlt – es wird schon ähnlich sein wie bei mir. Klar, dass ich mein bestes Forschungs– und Schürfungsgebiet bin, was Gefühle angeht. Weil es praktisch ist.

Jeder Satz, den ich schreibe, kommt aus mir heraus. Jeder Gedanke, den ich vermittle, ist von mir vorausgedacht. Und damit sich meine Romanpersonen stimmig anfühlen, muss jedes ihrer Gefühle ebenfalls von mir geprüft sein. Wie prüfe ich Gefühle? Indem ich sie mit dem abgleiche, was ich in mir erlebt habe. Wie autobiografisch macht mich das?

Margit Schreiner meinte, ihre Texte seien zu 99% autobiografisch und zu 99% fiktiv.

Mittlerweile glaube ich, meine Texte sind zu 198% autobiografisch.

Romanpersonen leben

„Die Archäologin“ ist ein Roman über eine Frau, die Skelette einer Familie findet, und sich so stark mit denen identifiziert, dass es ihr Leben aus der Bahn wirft. Vor einem Jahr war mir dann klar, was in dieser Frau abgeht: Erst, als sie das Schicksal der Toten auf ihre Art und Weise gelöst hat, kann sie mit ihrem eigenen Leben weitermachen.

Moment mal! Thomas, du hast doch die Archäologin erfunden und aufgeschrieben – und brauchst Jahre, um zu begreifen, wer sie ist?

Ja. Ist so. Denn…

Ein Roman ist ein System aus Menschen, von denen etliche fiktiv sind, und einer ist Autor, ich zum Beispiel. Bin Teil des Systems. Ich habe Beziehungen zu den Personen, intensiver als zu etlichen realen Menschen, denn ich denke mich in diese Personen hinein, ich spüre mich in sie hinein, ich schlüpfe in sie. Ich denke Möglichkeiten ihres Verhaltens durch. Für jede Handlung, den sie in meinem Roman begehen, habe ich zig Möglichkeiten verworfen. Ich bastle mir eine Person zusammen, nutze Versatzstücke aus meiner Umwelt. Ich schreibe mich mit der Person warm, bekomme ein Gefühl für den Klang ihrer Stimme und ihre Wünsche und Bedürfnisse.

Und dann beginnt es.

Dann wird diese Person real. Für mich. Da agiert sie, wie sie agieren muss, weil etwas in ihr steckt. Sie wird zum Menschen, den ich einmal getroffen habe, über den ich etwas erfahren habe, und über den ich jetzt in meinem Roman etwas schreiben möchte.

Manchmal begreife ich Menschen gleich, und manchmal dauert es, bis mir klar ist, was mit diesem Menschen los ist. Wie im richtigen Leben eben.

Kill All Darlings

Da gibt es diese lieb gewonnenen Textstellen, Figuren und Handlungsstränge. Wegen denen ich meinen Roman verbiege, bloß um sie zu behalten.

Beispiel gefällig? Mein aktueller Roman sollte Abschluss einer Trilogie werden. Sprich, ich übernehme die Personen von Teil 1 & 2 und füge frische Handlung hinzu. 2 Jahre habe ich gearbeitet, um Alt und Neu zu verknüpfen. Diesen Mai gestand ich mir ein: Ich bekomme die Komplexität nicht in den Griff. Meine Rahmenbedingung, dass dieser Roman ohne Teile 1&2 lebt, konnte nicht halten – zu groß waren die Schatten der Vergangenheit, die nichts zur aktuellen Romanhandlung beitrugen.

Ich befreite den Roman und mich. Ich machte ihn zum eigenständigen Werk. Den Romanbeginn, den ich vor Mai produziert hatte, legte ich beiseite. Im Juni schreib ich ihn neu. Neue Namen, neue Sprache, und die Vergangenheit der Personen richtete ich auf die Handlung aus.

Kill all darlings.

Ein Darling ist etwas, das dem Autor am Herzen liegt, aber nicht dem großen Ziel dient, schlimmer, es ist hinderlich. Damit das Darling Teil des Texts bleibt, muss der Autor die Handlung anpassen und muss Personen so hinbiegen, dass das Darling irgendwie Sinn macht.

Ein Darling ist die größte Bedrohung des literarischen Werkes! Eben weil es nicht wie ein Feind wirkt, sondern sich als lieber Freund des Autors einschleicht. Es macht den Autor blind. Nicht mehr die literarische Notwendigkeit entscheidet über den Verbleib des Darlings, sondern die Textverliebtheit.

Ein Darling gehört zu meiner literarischen Eitelkeit; es ist etwas, womit ich mich gerne umgebe (n würde), weil es so schön scheint.

Fragen, die mir helfen, um ein Darling zu identifizieren:

1) Magst du es?

2) Wenn es nicht da wäre, was würde der Handlung fehlen?

3) Gehört es zu deinen Lieblingstextstellen?

Übrigens. In der Mindmap der Romanfiguren gibt es eine Figur, die „Monstrum“ heißt. Wenn etwas Schreckliches in Kronstein passiert, wird dieses Monstrum gesehen. Eine Art Fata Morgana des Schreckens. Ich habe eine gute Szene geschrieben, in der mein Timon die Furcht vor dem Monstrum durchlebt.

zu Frage 1) Ich liebe es!

zu Frage 2) lass mich nachdenken …

zu Frage 3) JA! Unbedingt.

Ich gebe es zu: ich bin noch nicht bereit, dieses Monstrum zu entfernen. Soeben habe ich den ganzen Roman umgeschrieben, also da ist ein bisschen Geduld angesagt, ja? Schon wieder von etwas Abschied nehmen …

Einen Roman zu schreiben heißt, von vielen Ideen Abschied zu nehmen, damit neue Ideen ihre Plätze finden.

Meine Affirmation zum heutigen Schreibtag

Ich habe 3 Stunden. Diese Zeit nutze ich, indem ich mich intensiv in meine Romanperson Dagmar hineinspüre (und die mindmaps ergänze).

Es ist nicht mein Ziel, Worte im Roman zu tippen. Den Erfolg des heutigen Tages messe ich nicht anhand der Vergrößerung des Textdokuments. Den heutigen Erfolg fühle ich, weil ich Dagmar näher gekommen bin.

Die literarische Arbeit im Kollektiv

15:00 bis 23:45. GRAUKO-Treffen in Graz. Anfangs Organisatorisches wie die Planung des kommenden Jahres (Lesungen, Treffen). Die literarische Arbeit beginnt mit einer thrillerhaften Kurzgeschichte (bald ist sie auf www.grauko.com zu lesen). Als nächstes widmen wir uns einer Kurzgeschichte und danach einem Roman. Die Autorin liest eine Textprobe, und nach dem Feedback überarbeiten gemeinsam die Handlung und die Personen – wir können einiges vereinfachen und den Roman von unnötigen Nebensträngen befreien. Wir reden und essen und trinken und malen mit Kreide die wichtigsten Zusammenhänge auf eine Tafel.

Mindmap Offene Punkte 2009-10-11
Meine Roman-Mindmap mit offenen Themen, Fragen, Ideen

Danach arbeiten wir an meinem Roman. Ich trage eine konkrete Frage an das Kollektiv: Wenn eine Frau ohne Vater aufwächst, was ist dann anders? Wie sehen ihre Beziehungen aus? Die Beziehung zur Mutter, zu den Männern? Was fehlt ihr? Wie äußert sich das? Ich notiere alles in meiner Mindmap „Offene Punkte“. – Es ist so viel, das muss ich erst einmal ordnen, für mich: 1) Die Verhaltensmuster meinen Personen zuordnen, 2) mir die Auswirkung der Verhaltensmuster auf den Lebenslauf überlegen (Beruf, Reihenfolge von Beziehungen) und 3) die Auswirkungen auf den Alltag mit seinen Kleinigkeiten überlegen. Puh. Viel zu tun. Toller nächster Schritt.

Das Kollektiv GRAUKO ist seit 10 Jahren für mich die wichtigste Quelle von Anregungen und Feedback. Und Freundschaft – es ist viel Freundschaft gewachsen mit den Jahren.

Dialog zweier Autorinnen

A: Kommst du zur Lesung?

B: Als Autorin eine Lesung zu besuchen, das ist so wie bei einer Gehirnchirurgin, die ihrer Kollegin zuschaut, wie sie einen stereotaktischen Eingriff durchführt. Kann gelingen (hoffentlich), oder auch nicht (bedauerlich). Ist aber beides kein zwingender Grund, sich das nach Feierabend anzusehen.

(Schweigen)

A: Kommst du zur Lesung?

B: Nein.

Kopflastig

Unlängst fragte mich eine Kollegin: „Wie gehst du mit der ganzen Kopflastigkeit um? Ich versuche nämlich oft, davon wegzukommen. Würde mich interessieren, wie du das siehst.“

„Kopflastig“ definiere ich für mich als „viel denken und viel reflektieren“. Es gibt Gedanken, die gut tun, und solche, die nicht gut tun. Nicht gut sind jene, die ich mal „Sorgengedanken“ nenne. Sprich, das Durchspielen von Szenarien, was denn alles so in der Zukunft an schlimmen Dingen passieren könnte (damit meine ich Überlegungen, die über das konstruktive Lösungsfinden hinausgehen) – denn ich werde mich niemals besser fühlen, alleine dadurch, dass ich mich in künftige Probleme hinein versetze. Sondern indem ich meine Einstellung ändere („Das, was ich mir wünsche, tritt ein.“) – denn ich schaffe mir selbst ja meine Realität. Ich bestimme selbst, wie ich mich fühle (Siehe Gesetz der Anziehung). Manchmal gelingt es mir, mich bewusst besser zu fühlen, manchmal geht es eben nicht, auch das gehört dazu, man ist ja keine Maschine, und ich habe das Recht, mich auch mal mies zu fühlen.

Als Autor habe ich ein ganz tolles Instrument, um Kopflastigkeit in etwas Konstruktives zu kanalisieren: ich erschaffe Personen, in die ich meine Gedanken hineinlege – und je intensiver ich das mache, desto besser (treffsicherer, emotionaler) werden die Texte. Dort sind sie gut geparkt, meine Zweifel und Befürchtungen. Und die Freude natürlich auch! Die wertvollen Begegnungen. Die Liebe für etwas oder für jemanden. Als Autor habe ich quasi kein Gefühl umsonst durchlebt, denn alles ist Teil des Reichtums, aus dem ich für mein Werk schöpfe.