An Grenzen gehen und Kritik aushalten: Sartre leidet.

Die Freiheit, die sich Sartre nimmt, gesteht er auch jedem anderen zu. Somit auch die Freiheit, Sartre zu kritisieren.

Aber er leidet darunter. Der Beobachter ist stets Teil des Systems und wird darum stets selbst beobachtet. Davon handelt dieser Filmausschnitt: Es ist Hölle für ihn, dass er nicht steuern kann, was Leute denken, wenn sie ihn beobachteten.

An Grenzen gehen und Kritik aushalten: Es braucht keinen Konsens

Bei allem, was über Literatur gesagt wird, gehe ich davon aus, dass auch das Gegenteil wahr sein kann. Darum ist es auch valide zu behaupten, dass dieser Satz unwahr ist.

Für mich braucht es keinen Konsens, wenn über Literatur gesprochen wird. Im Gegenteil, die Vielfalt der Meinungen ist wichtig, ebenso der Dissens.

Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt, dass das Werk neu, vielfältig und bedeutend ist. Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler einig mit sich selbst.

Oscar Wilde

Zweifel ist der Ursprung der Weisheit

René Descartes

Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.

Evelyn Beatrice Hall

An Grenzen gehen und Kritik aushalten: Roche

Viele Autorinnen und Autoren treibt es raus aus der Enge, raus der eigenen Familie, raus dem kleinen Denken, rein in die Vogelperspektive. Werke wie „Im Wendekreis des Krebses“ wären sonst wohl nie entstanden.

Ich bin Charly Hofbauer dankbar, dass der dieses Thema so treffend auf den Punkt gebracht hat. In der fulminanten Kurzgeschichte „Himmel, Arsch und Zwirn“ wird einem fiktiven Autor die Frage gestellt, ab welchem Zeitpunkt er sich selbst als ernstzunehmenden Schriftsteller gesehen habe:

Ab dem Tag, an dem mir klar wurde, daß man sich nichts scheißen darf.

Das führt zu Konsequenzen. Bei Hofbauer wird der fiktive Autor erschossen, nachdem er in seinem Roman „Die Kotze auf dem heißen Backblech“ die Bulimie seiner Schwester verarbeitet hat.

Charlotte Roche hat offenbar das Sterben ihrer Geschwister im Roman verarbeitet. Und so liefert untenstehender Zeitungsartikel ein schönes Beispiel dafür, dass man als Autorin viel Kritik aushalten muss, als Preis für die Grenzgänge.

(Ich persönlich habe Feuchtgebiete nicht gemocht, aus schlicht sprachlichen Gründen – das ist meine Meinung, und andere drüfen / sollen eine andere Meinung haben)

Vom Stiefvater bis zu Alice Schwarzer
Auf Charlotte Roche prasselt Kritik ein
15. August 2011 19:07

Schwarzer über „verruchte Heimatschnulze“: „Du hast nicht die Lösung, du hast das Problem“

Köln – Nach „Feuchtgebiete“ hat Charlotte Roche mit „Schoßgebete“ nun ihren zweiten Roman vorgelegt – und wieder gibt es jede Menge Wirbel. Am Montag meldeten sich zwei Kritiker zu Wort: Alice Schwarzer und Roches Stiefvater Ulrich Busch, ein Ex-Mann ihrer Mutter Liz.

Die familiäre Seite …

Busch warf Roche vor, den Unfalltod ihrer Brüder werbewirksam auszuschlachten. Roches Bruder William (21), ihr Halbbruder David (9) und das Pflegekind Dennis (6) waren 2001 auf dem Weg zu Roches Hochzeit in London tödlich verunglückt. Ein sehr ähnlicher Unfall kommt auch in dem Buch vor.

„Ohne Rücksicht, Skrupel und Respekt wird das Familienunglück zur Schau gestellt und vermarktet“, sagte Busch stern.de. Roche habe ihn vor einem Jahr dazu bewegen wollen, ihr die Unterlagen zu dem Unfall auszuhändigen. Sie habe damals gesagt, dass sie Dokumente wie Obduktionsberichte, Totenscheine und Gegenstände aus dem ausgebrannten Wagen für eine Therapie brauche. Busch habe ihr die Unterlagen jedoch verweigert. „Jetzt weiß ich, wofür sie die Dokumentation haben wollte. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.“

Roche bestritt jedoch gegenüber stern.de, dass sie die Dokumente für das Buch benutzen wollte. „Die Aufarbeitung dieser Akten, die mir mein ehemaliger Stiefvater ja leider nicht ausgehändigt hat, wäre ein wichtiger Teil meiner Traumatherapie gewesen.“

… und die feministische

Unterdessen äußerte sich Roches „Ex-Freundin“ Alice Schwarzer in wenig schmeichelhaften Formulierungen über das Buch. In einem Offenen Brief an Roche auf ihrer Website schrieb sie: „Eines allerdings wäre fatal: Wenn deine Leserinnen deine verruchte Heimatschnulze über Sex & Liebe für ein Rezept halten würden. Denn du hast nicht die Lösung, du hast das Problem.“

Schwarzer sieht sich als „feministische Rachegöttin“ Seite an Seite mit Roches Mutter durch das Buch geistern. Sie verstehe schon, dass Roche damit auf ihre „so forciert emanzipierte Mutter“ reagiere. „Aber deine Mutter hat auch nur auf ihre Mutter, deine Großmutter, reagiert. Und du wiederum, du reagierst nun auf deine Mutter – und machst es wie die Großmutter. Soll diese fatale Wechselwirkung immer so weitergehen?“

Die relativ wenigen Sexszenen in dem Buch halte sie eher für einen Verkaufstrick, schreibt Schwarzer. „Dieser von dir wie durch ein Mikroskop klinisch betrachtete eheliche Sex zwischen Wirsingeintopf und Wärmedecke klingt wenig aufregend.“ (APA)

Quelle: http://derstandard.at/1313024319472/Vom-Stiefvater-bis-zu-Alice-Schwarzer-Auf-Charlotte-Roche-prasselt-Kritik-ein

Wie gebe ich Feedback?

Die beste Art, einem schreibenden Kollegen zu helfen, ist, ihm ein Feedback zu geben, das ihn weiterbringt. In diesem Video zeige ich, wie ich das angehe.

Der Text, den ich im Video bespreche, ist im Umfeld einer Schreibwerkstatt entstanden. Die Aufgabe lautete: schreibe etwas, wozu dich dieses Bild inspiriert.

Einen kurzen Moment lang hält Eva inne.

Die Sonne brennt heiß auf ihre Schultern, und sie fühlt kleine Schweißperlen zwischen ihren Brüsten hinab rinnen.

Die Messlatte in ihren Händen erscheint ihr plötzlich wie ein Symbol, jede Markierung steht für einen Abschnitt ihres Lebens.

Sie beginnt zu zählen…und markiert mit der linken Hand die Stelle, an der sie gerade steht.

Was habe ich schon alles hinter mir gelassen…was ist unwiederbringlich Vergangenheit…und was steht mir wohl in Zukunft bevor?

Ihre Gedanken kreisen.

Wie wild beginnt ihr Herz zu pochen.

Ein kleiner Schauer rieselt, beginnend im Nacken, die Wirbelsäule hinunter und verursacht trotz drückender Mittagshitze Gänsehaut… und ein durchaus angenehmes Prickeln.

Eva lächelt.

Er steht am Rande der Grube und blickt zu ihr hinunter.

Das Fernsehen interviewt meinen Blog (Teil 4: Bonusmaterial)

Ein kurzes Web-Video mit Antworten, das das TV-Team gut fand, jedoch aus Zeitmangel nicht senden konnte. Quelle: we.blog – Thomas Wollinger – Deleted Scenes

Creativity is the act of rebellion by definition

Creativity is the act of rebellion by definition. You have to be downright subversive to break the rules and to confront conventional wisdom, don’t you? And if everyone accepts what you are doing when you are doing it, you’re obviously not on the forefront and you are doing something that is within the paradigm. If every accepts what I am doing, I’m in the wrong field.

Allan Snyder

Beispiel einer Kritik oder: Neue Lebensphase II

Ich habe I., eine sehr wertgeschätzte Kollegin, um ihre Meinung gebeten. Es ging um eine Stelle, die ich vor ein paar Tagen geschrieben hatte.

Ihre Rückmeldung will ich hier als Beispiel einer gelungenen Kritik anführen. Ich erfahre, was ihrer Meinung nach nicht funktioniert und was sehr wohl funktioniert. I.’s Kritik hilft mir, mich zu orientieren. Kritik muss nicht immer versuchen, objektiv zu sein; so spricht I. auch ihre persönliche Schwierigkeit mit einem Charakter an.

Hi Thomas,

hier mein Statement zu deinem Angelika-Timon-Text: Beispiel einer Kritik oder: Neue Lebensphase II weiterlesen

Kritik am Handwerk eines Autors

In einem Krimi las ich folgende Stelle:

[Er] war ein kränklicher Mann von kleinem Wuchs; er war Beamter in irgendeiner Behörde, war geradezu auffallend blond und hatte einen kurzen Backenbart, auf den er sehr stolz war. Überdies schmerzten ihn fast ständig die Augen. Sein Herz war ziemlich weich, doch seine Rede höchst selbstsicher und manchmal geradezu anmaßend – was im Verein mit seiner zarten Gestalt fast immer lächerlich wirkte.

  1. Der Autor wertet, anstatt zu zeigen (vergleiche dazu: Show, don’t tell): Es wird gesagt, dass der Mann klein sei, ohne zu zeigen, wie groß er nun ist; der Mann wirkt lächerlich, aber dem dem Leser wird keine die Möglichkeit gegeben, diese Lächerlichkeit zu erleben. Der Autor schreibt vor, was der Leser empfinden soll (Regieanweisung).
  2. Viele Adjektive: Statt „geradezu auffallend blond“ würde eine „auffallend blond“ genügen – denn was ist der Unterschied zwischen „geradezu auffallend“ und „auffallend“? (Robert Schindel nennt diese überflüssigen Worte „Füllselworte“) Wie darf ich mir einen „geradezu auffallend blonden“ Mann vorstellen? Rotstichig? Albinohaft? Der Autor hätte mir das vermitteln können.
  3. Übertreibungen haben den gegenteiligen Effekt: „selbstsicher“ wirkt beim Leser stärker als „höchst selbstsicher“, und „sehr stolz“ schmälert den „stolz“.
  4. Übertreibungen, die durch ein Adjektiv relativiert werden: Was bedeutet „fast ständig“? Ein „ständig“ mit einem „fast“ zu mindern, solche sprachlichen Hakenschläge stumpfen ab; hier würde ein „oft“ wohl genügen. Ähnlich bei „fast immer lächerlich“, da täte es ein „lächerlich“; denn die Zeitraumbeschreibung „fast immer“ bringt den Leser (gefühlsmäßig) nicht näher an den beschriebenen Mann.
  5. Literarische Ungerechtigkeit: Einen Mann gleich von Anfang an als lächerlich zu werten widerspricht dem Prinzip der erzählerischen Gerechtigkeit, wie sie etwa von Robert Schindel eingefordert wird.

Der Autor, so scheint es mir, wollte sich nicht die Arbeit antun, dem Leser zu vermitteln, was er sieht – der Leser erfährt bloß die Zusammenfassung, die Schlussfolgerungen. Dem Leser wird hier keine Chance gelassen, sich selbst ein Bild zu machen.

Welchem Krimi ich diese Stelle wohl entnommen habe?

Handwerkliche vs. ästhetische Kritik

Handwerkliche Kritik

Wir beurteilen, inwieweit der Text das Ziel erreicht, das sich der Text setzt.

Das Ziel wird nicht hinterfragt, sondern nur dessen Umsetzung mit Hilfe des vorliegenden Texts.

Ein Indikator für geringe handwerkliche Qualität ist, dass man Textteile kürzen kann, ohne dass sich an der Zielerreichung/Wirkung des Texts etwas ändert. (Was nicht bedeutet, dass ein solcher Text gekürzt werden muss – er kann auch ausführlicher gestaltet werden, um seine Wirkung zu entfalten)

Ästhetische Kritik

Wir beurteilen das Ziel, das sich ein Text stellt.

Hier hinterfragen wir sehr wohl, ob das Ziel passend | schön | gut | lohnenswert ist. Der Kritiker legt seine persönlichen Beurteilungsmaßstäbe an – diese unterscheiden sich je nach persönlichen Einstellungen und Werten der Kritiker.

Verlage beispielsweise beurteilen Manuskripte danach, ob sie zur Verlagslinie passen – wenn ein Verlag etwa nur Krimis verlegt, hat eine noch so gut geschriebene Fabel keine Chance verlegt zu werden.

Zu dieser Art der Beurteilung gehören Literaturrezension. Hier dominiert die persönliche Einstellung des Kritikers – und das ist ausdrücklich gewünscht.

Ästhetische Kritik kann dem Autor den Blick auf das eigene Werk weiten, kann ihm helfen, sich zu positionieren.