Selbständig aus dem Text leben

Ich überarbeite derzeit meinen Roman mit einer Geschwindigkeit von bis zu 30 A4-Seiten pro Tag. Ein Romanzehntel.

Wobei sich der Schreibtag dann bis zwei Uhr morgens erstreckt. Und am nächsten Morgen benommen an die Bettkante setzen und dann aber doch weitermachen.

Rausch der Geschwindigkeit, weil aus Worten und Standbildern ein Film wird. Wo die Charaktere selbständig aus dem Text leben, befreit von meinen ursprünglichen Plänen.

Manuskript liegt bereit. Für rentsnik.

Das Manuskript liegt bereit. Für rentsnik – ich treffe sie kommende Woche, sie hat versprochen, mir feedback zu geben.

Es umfasst die ersten 250 Buchseiten, 134 A4-Seiten, 440.000 Zeichen und 500 Tippfehler (4 Stück pro A4-Seite sollten schon drin sein).

Ich habe in den letzten Monaten das Ding – wieder einmal – gründlich überarbeitet. 20% rausgeworfen. Ich mag es jetzt nimmer anschauen, ich will endlich weiter.

Mehr noch, ich denke an einen Zeitsprung – Den beginnenden Frühling im Roman gar nicht weiterverfolgen, sondern voll in den Sommer einsteigen. Und zwischenzeitlich hat sich in der übersprungenen Zeit einiges aufgebaut. Ich werde an Geschwindigkeit gewinnen.

Ein verfahrenes Projekt sucht sein Ende

Hier das Beispiel der wiederholten Überarbeitung ein und desselben Stoffs.

Die Dreharbeiten von „Apokalypse Now“ liefen schon seit Monaten aus dem Ruder, der Hauptdarsteller hatte einen Herzinfarkt, das Budget war gesprengt, das Drehbuch orientierungslos. In dieser Situation wurde Drehbuchautor John Milius gerufen, um das alles noch hinzubiegen.

Beachte die handschriftlichen Überarbeitungen des Drehbuchs an den Beginn des Videos – da soll einer sagen, ich würde viel überarbeiten *gg*

Chronik der Anfänge

Hier die ersten vier Sätze und ihr Lauf durch die Jahre. Warum die Änderungen? Weil sich meine Sicht auf den Roman mit seinen Fassungen änderte.

Aber jedesmal beim Schreiben war ich sicher: Das wäre nun der definitive Romanbeginn.

21.1.2007: Von mir werden Sie nicht hören, wie ich mich gefühlt habe. Aber was ich gedacht habe, das kann ich Ihnen sagen: Wer auch immer das Museum angezündet hat, er hat Bettina keine Chance gelassen. Denn sie riecht nichts. Hat nie etwas gerochen.

4.2.2008: Ich wollte Bettina noch einmal sehen. Sie hatten sie nach Wien überstellt, in die Gerichtsmedizin. Ein Dr. Müller begrüßte mich und sagte, ich möge mir nicht zu viel erwarten. Ich weiß bis heute nicht, was man von so einer Situation zu erwarten hat.

9.6.2009: Liebe Bettina, ich bin ruhiger geworden in den letzen Monaten. Das tut gut, und ich sage mir, dass du stolz auf mich bist, weil ich das alles recht gut meistere. Ich arbeite viel, ich habe also gar nicht mehr so viel Zeit zum Denken, zum Herumdenken, zum Im–Kreis–Denken, aber heute, heute also wieder das Gerichtsmedizindenken, das ganze Programm inklusive Dr. Müller. Wie er vor mir gestanden ist.

29.10.2009: Du bist am 17. Oktober gestorben, Begräbnis 3. November, und jetzt ist bitte sehr schon Februar. Bald wird Frühling sein. Sogar hier in Wien wird wieder etwas wachsen – das alles könnte doch irgendwann einmal bitte verdammt nochmal endlich vorbei sein! Obwohl: es hat ja Fortschritte gegeben.

27.7.2010: Ich könnte beschreiben, wie es war, als ich es erfuhr. Dieser Telefonanruf von deinem Vater. In der U–Bahn. Er fragte mich: »Weißt du es schon?«

22.2.2011: Ich wollte dich noch einmal sehen. Der Pathologe sagte, ich sollte mir nicht zu viel erwarten. Ich weiß bis heute nicht, was man normalerweise in so einer Situation zu erwarten hätte. Er führte mich in einen gekachelten Raum.

Bin gerade beim Überarbeiten und Korrigieren

Bin gerade beim Korrekturlesen der ersten Romanhälfte und beim Einarbeiten von Korrekturen, die ich schon im Sommer von GRAUKO erhalten habe, anlässlich des Wochenendes in Stillfried.

Hier, als Beispiel, eine Manuskriptseite von der 7. Fassung, korrigiert von Peter Heissenberger –
Danke für die Mühe, Peter!

Auf, auf zur 8. Fassung!

Das menschliche Denken, Mitte 17. Jh, Kupferstich, Sudhoff-Institut Leipzig, Foto: Kustodie/Karin Kranich

Ich: Gut, Thomas. Hast du also beschlossen, zwei Romanpersonen zusammen zu legen. Hätte dir das nicht auch früher einfallen können?

Ich: Lass das. Du weißt genau, dass ich mich in Spiralen meinen Romanpersonen und der Handlung nähere. Ist eben so.

Ich: Lernst auch nichts dazu, oder?

Ich: …

Ich: Also ran an die Tasten, Thomas! Auf, auf zur 8. Fassung. Zum Glück nicht so schlimm wie der Umstieg von der 6. auf die 7. Die meisten Szenen bleiben gleich. Du weißt, was auf dich zukommt?

Ich: (nicke)

Ich: Mindmaps mit den Personen anpassen. Eine Feste Meinung zum Wesen von Dagmarneu bilden, bevor du weiter tust! Damit wir nicht gleich in die 9. Fassung schlittern, hörst du? Darum: gut überlegen, ja?

Ich: Ja ja.

Ich: Dann die Szenen mit Isabellaalt und Dagmaralt zum Überarbeiten markieren. Eigentlich alles bisher geschriebene durchwassern. Am besten dir eine emotionale Szene aussuchen und mal einsteigen in Dagmarneu.

Ich: Weiß ich eh‘.

Weiterschreiben? Rückwärtsschreiben!

Vor einigen Tagen habe ich hier die Frage gestellt: Wie fühlt man sich, nachdem man jemanden krankenhausreif geschlagen hat?

Eine Frage wie bei etwas, das plötzlich passiert, zum Beispiel, ein Apfel fällt Timon auf den Kopf, und ich muss herausfinden, wie er sich nun fühlt.

Es ist schlichtweg die falsche Frage. Denn weit wichtiger ist: Was fühlt Timon vorher? Es muss in irgendetwas Großem drinnenstecken, sonst würde er nicht so etwas tun. Und dieses Große (sein Schuldgefühl) treibt ihn zu Tat an, und nachher ist es ja nicht weg. Nachher, verstärkt durch die Tat, geht es weiter. Timon hat es dann schwarz auf weiß: er trägt in sich die Erbschuld des Mannes schlechthin, nämlich, die Frau im Stich gelassen zu haben. So etwa hatte er sich bis zu Sophies Tod niemals ernsthaft darauf vorbereitet, mit ihr zusammen zu ziehen. Trotz gegensätzlicher Beteuerungen. Wäre sie nicht gestorben, wäre es aufgeflogen. Ein Teil von Timon wollte niemals das bisherige bequeme Leben aufgeben. Der andere Teil Timons war immer bemüht, dieses Versagen bis zur Selbstaufgabe zu kompensieren.

Das Schlimmste: Ein Teil von Timon war erleichtert, als Sophie tot war. Das ist etwas, das muss Timon vor sich selbst verstecken. Er zimmert er sich ein Idealbild der Beziehung zurecht. Aber Timon entkommt sich nicht. Das will ich so schildern, dass es fast zwangsweise zu der Entladung führt.

(Damit muss selbstverständlich die Textstelle, in der Timon auf Marx eintritt, massiv geändert werden.)

Beim Überarbeiten II

Seite 93 der 7. Romanfassung mit Kaffee und Tippfehlern
Seite 93 der 7. Romanfassung mit Kaffee und Tippfehlern

09:30 Ich mag nicht. Lieber irgendwohin frühstücken gehen. Heute keine Literatur, bitte.
09:38 Ich mache mir Kaffee
09:42 Ich freue mich, in meinem Kühlschrank ein Erdbeerjoghurt zu finden.
09:52 Ich stelle die Kaffeetasse dort ab, wo Platz für sie ist. Neben dem aufgeblätterten Manuskript.
10:01 Oh Gott, ein Fallfehler! Wortwiederholung. Wortwiederholungen. Verben vergessen. Verben doppelt – das kommt davon, wenn man Sätze umstellt ohne sie nachher durchzulesen! Und viel zu viele Rufzeichen im Text!
10:15 Ich schreibe Sätze um – Meine Handschrift zerfließt, ist zum Lesen noch brauchbar. Ich habe das Schreiben verlernt, klar, immer nur Computer.
10:20 Bis zum GRAUKO-Treffen werde ich niemals mit der gesamten Überarbeitung fertig, nicht einmal mit Durchlesen. Das Teil ist ja volumensmäßig schon ein dünner Roman.
10:30 Irgendwie bin ich drin. In der Handlung. Ist ein Formen der weichen Romanmasse. Es ist weit weg von perfekt, aber GRAUKO soll mir bloß sagen, welche Stimmung rüberkommt, welche Fragen offen sind, und wo es hakt.