Beim Mittagessen einen Verkehrsunfall ändern

Neulich in der Kantine saß mir T. gegenüber. Er ist Sanitäter beim Roten Kreuz. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit ihm einen Verkehrsunfall durchzubesprechen.

Mein Plan, mit dem Auto gegen einen blühenden Marillenbaum zu fahren, gibt zwar ein schönes Bild (zartrosa Blüten fallen wie Schnee auf die verbogene Motorhaube), passt aber nicht zu Timons Verletzung,die ich später brauche (Schädeltrauma mit Amnesie ohne weiterer Symptome).

Also: Kein Marillenbaum kaputtfahren. Daher auch kein Wrack, daher auch nicht sie Szene der Wrackbesichtigung. Und weil sein Auto intakt ist, muss mein Timon nicht mit dem Zug fahren (was passiert dann mit den Zugfahrszenen?)

Hey! eine Idee: Mein Timon hat gar kein Auto! So wie ich. (Klar, Thomas, schöpfe doch aus dem Autobiografischen, mach‘ es dir leicht! Dann passt alles zusammen. Hinweis des Schreibministers: Denken kann Ihnen Kürzen ersparen.)

Danke Blog, soeben hast du mir wieder geholfen.

Wenn Timon jemanden niederschlägt …

… dann muss das so geschrieben sein, dass sich die Leserin denkt: „Mir war klar, dass irgend etwas mit Timon passieren wird, so wie er in den letzten Kapiteln beisammen war. Dennoch hat es mich überrascht – dass es ausgerechnet auf diese Weise geschah. Nun ist natürlich alles anders. Ich bin gespannt.“

Geisterhaftes Schreiberlebnis

Was ich nun erzähle, gehört um Geisterhaftesten, das mir bislang beim Schreiben begegnet ist.

Ich schrieb eine Szene, in der Timon von Kronstein nach Wien mit dem Zug fährt. Eine Reise, die mit Unruhe begann (er wachte auf, und es trieb ihn zum Bahnhof) und die in Timons Wohnung in Wien endete. Eine intensive Reise, die kaum Äußerlichkeiten zu bieten hatte, aber dafür verschwamm in Timon die Realität mit dem, wie er sich seine Vergangenheit zurecht dachte.

So weit, so gut.

Nachdem ich mit dem Schreiben fertig war, stand ich in der Wohnzimmermitte und führte folgenden inneren Dialog:

Ich: Und jetzt? Ich sollte wieder nach Kronstein fahren.

Ich: Nein, Thomas, Kronstein gibt es nicht. Du bist Thomas, nicht Timon.

Ich: Aber ich bin doch hier in der Wohnung von Timon.

Ich: Das hier sieht so aus, als wäre es Timons Wohnung, weil du deine Wohnung in den Roman eingebracht hast.

Ich: Okay.

(Pause)

Ich: Also, soll ich jetzt nach Kronstein zurückfahren oder hier übernachten?

Lieber Blog, hilf mir, dass ich in das Gefühl “Schuld”…

… hinein finde, dass ich die rechte Schreibhaltung finde, für das, was nun kommt.

Blog: Gerne helfe ich dir. Sag, was kommt denn Timon in den Sinn, wenn er an „Schuld“ denkt?

Autor: Dass er ein Buch einmal nicht zurückgegeben hat und dass das schon 1993 war und er sich immer wieder daran erinnerte und dass das wohl nie aus seinem Kopf gehen wird. Ein dummes Beispiel, das weiß er auch…

Blog: Und warum ausgerechnet die Erinnerung an dieses Buch? Warum fühlt er sich nicht schuldig, weil er Sonntagszeitungen stiehlt?

Autor: Weil es mit Vertrauen zu tun hat – weil er versprochen hatte, dass er das Buch ganz sicher zurückgeben würde. Das Buch tut ihm immer noch weh.

Blog: Hat er das Buch noch?

Autor: Ja.

Blog: Er kann es ja zurückgeben.

Autor: Nein, sonst würde er seine Schuld offen eingestehen.

Blog: Schuld und Vertrauen gehören für Timon zusammen?

Autor: Und Versagen. Er ist schuldig, weil er Erwartungen nicht erfüllt hat.

Blog: Und woher kommen die Erwartungen?

Autor: Na, von den anderen. Aus ihm selbst.

Blog: Timon kann ja sagen: Das mache ich nicht. Zum Beispiel bei Sophie: „Ich will nicht mit dir nach Kronstein ziehen, ich will lieber in Wien weiterleben.“

Autor: Timon macht das nicht. Timon weicht Konflikten aus.

Blog: Du meinst, Timon ist konfliktscheu, bürdet sich stillschweigend Erwartungen auf, die er nicht erfüllen kann/will?

Autor: Eigentlich ja. Und die Erwartungen kommen von seinen Eltern, von seiner Erziehung. Und von seiner Mutter hört er „Männer entziehen sich ihrer Verantwortung“ – solches Verhalten verabscheut er, dennoch (oder gerade deshalb) tut er es. Und hasst sich dafür und dieser Hass…

Blog: Ja! Es wird! Weiter!

Autor: … und dieser Hass entlädt sich dann auf einen anderen Menschen (Marx). Auf einen, der ihn auf diesen wunden Punkt hinweist. Wobei dieser Marx vielleicht durch seine bloße Art Timon reizt, nicht so sehr durch das, was er tut. – Zum Beispiel, wenn Timon meint, Marx hätte seine Frau im Stich gelassen? Und wenn Marx Timons Verhalten spiegelt? Wir wissen ja, dass man auf das am stärksten reagiert, was man von sich selbst beim Gegenüber erkennt.

Blog: Ich glaube, du hast es.

Autor: Ich danke für dieses Gespräch, lieber Blog.

Das Motto zum heuten Schreibtag lautet … Schuld!

… also zur Abwechslung mal was Fröhliches :-)

Ich widme mich heute dem Thema, weshalb Timon ausrastet und Marx niederschlägt. Hauptsächlich ist es sein Gefühl, schuldig zu sein, zweites wird er von Marx laufend provoziert und auf diese mögliche Schuld hingewiesen, und drittens – als Anlass quasi – das Bedürfnis, Angelika beschützen zu müssen. Oder so. Oder ganz anders.

Und außerdem werde ich heute laufen gehen (auch Autoren sollten sich bewegen).

Wie fühlt man sich, nachdem man jemanden krankenhausreif geschlagen hat? (Teil 2)

Habe mit ein paar Leuten darüber geredet. So einfach ist das alles nicht. Es gibt wohl folgende Tätertypen:
I. die Rotseher (sie rasten aus und können sich an die Tat nicht mehr erinnern)
II. die Choleriker (die bei Kleinigkeiten aufbrausen) und
III. die, bei denen es lange braucht, bis ihre innere Schwelle überschritten ist.

Die Frage, die mir entgegen geworfen wurde, lautete: »Was muss passieren, damit du – ja, genau du, Thomas! – jemanden niederschlägst?« Mir ist der Gedanke zuwider. An meine Schulzeit denkend bin ich wohl Typ III, und so auch Timon. Das bedeutet literarische Vorarbeit. Timon muss von dem Menschen, den er niederschlägt, intensiv gereizt werden. Mit Themen, die Timon ins Mark gehen.

Wie wäre es mit Schuld? Das ist schon bisher ein Thema Themen gewesen: Er war nicht in Kronstein gewesen, als Sophie umkam. Weil er sich dagegen spreizte, aus Wien fortzuziehen. Sophie gegenüber hatte er das nie ausgesprochen, aber er hatte die Übersiedlung hinausgezögert, soweit es ging. Erst bei der Geburt wollte er übersiedeln – und für die Übersiedlung selbst hatte er keine Vorkehrungen, Planungen getroffen. Je näher der Geburtstermin, desto heftiger klammerte er sich an seine verbleibenden Wiener Tage. Bis Sophie tot war. Dann blieb er in Wien.

Und wenn jetzt jemand kam und Timon mit dieser Schuld konfrontierte? Das könnte zum Beispiel der Journalist Rudolph Marx tun. Er provoziert des Provozierens willen, denn bei verwundeten Menschen – so lautet Marx‘ Methode – kämen die wahren Geschichten ans Tageslicht. Als er von Timon niedergeschlagen wird, hat Marx gewonnen.

Wie fühlt man sich, nachdem man jemanden krankenhausreif geschlagen hat? (Teil 1)

Und was dann war – wie lange wird es gedauert haben? Eine Minute? Zwei? Wie lange braucht es, einen Menschen krankenhausreif zu treten? Ich kann mich erinnern. Aber was ich fühlte, Sophie! Bitte hilf mir. Das geht in mein Tiefes. Dort unten, wo es schwarz ist, wo alles zusammengeht: Kronstein und du und dein Museum und ich. Und dass sie dich umbrachten. Dass sie unser Kind töteten. Dass sie in mir etwas abrissen. Dass dieses Arschloch von Mörder immer noch lebte und dass er dich leiden hatte lassen. Und dass im großen Violanum keiner etwas unternommen hatte, dass irgendwer es doch hätte wissen müssen. Und dass auch ich es nicht gesehen hatte – ich hätte es wissen müssen, spüren müssen, ich hätte es riechen können wenn ich riechen könnte, und jeder Tritt forderte einen weiteren Tritt heraus, denn nach jedem Tritt war er immer noch da, stöhnte, hob die Unterarme, bis ich etwas an meinem Oberarm spürte. Eine Hand. Angelika. Sie flüsterte: »Bitte. Töte ihn nicht.«

So weit so gut. Und nun?

Wie geht es in Timons Innerem weiter? Wie komme ich an solche Emotionen heran? – Aus dem Autobiografischen schöpfen! – Wie denn, ich habe nie jemanden so geschlagen. – Alles, was du brauchst, steckt in dir. Du musst dich nur stellen. – Wie denn? Ich würde das, was Timon getan hat, niemals tun. – Timon auch nicht. Thomas, denk an deine Schulzeit, an diese dunkle Epoche- Was war da? – Das war doch nicht zu vergleichen! – Aber die Versatzstücke, Thomas! Angst, Wut, Verzweiflung, erinnerst du dich? – Nein. – Dann schau genau dort hin! Weiche nicht aus, das würden deine Texte sofort spüren. Du musst schürfen, viel Geröll wegmachen, bist du zu den Emotionssedimenten vordringst, aus denen du am Ende Timon gewinnst.

Wie kommt Angelika zu einem Schweineherzen? (Herz 3)

Letztes Wochenende wieder einmal Autoren-Partyszenario. Ich erzählte von der Szene mit dem Schweineherzen, an der ich eben arbeitete. Und da kam eine gute Frage: „Woher hat Angelika das Schweineherz?“

Ich antwortete: „Kein Problem. Findet die Party eben in einer Fleischerei statt oder das Thema der Party ist Schwein oder … ach, mir wird schon was einfallen.“

Nun. Wenn die Party in einer Fleischerei stattfindet, dann braucht Angelika einen persönlichen Bezug zum Fleischer, vielleicht ist sie die Freundin des Tochter des Fleischers. Und: Warum hält sie das Herz in Ihrer Hand? Nun, sie will wissen, wie sich ein Herz anfühlt. Ihr Leben dreht sich doch nur mehr um ihr Herz – um das, das in ihr schlägt, der Herzmuskel, der zu groß ist, und dann das Herz, das man ihr einpflanzen will, alles Herz bei ihr, in ihr … und ein Schweineherz ist dem Menschenherzen sehr ähnlich.

Über solche Dinge habe ich den Rest der Party nachgedacht. Als Autor ist mir auf Parties nie langweilig, ich habe ja immer etwas, das mich beschäftigt.

Wie mir Szenen begegnen (Herz 2)

Einmal ausgelöst, macht sich die Szene mit dem Herzen selbständig.

Jetzt ist auch der Fotograf da, der Angelika mitten in der Nacht fotografiert, betrunken, gerade von einem Fest gekommen, das Schweineherz in ihrer rechten Faust. Sein Blitzlicht macht sie blind für einen Moment. Sie stolpert weiter. Und da ist Timon, der Angelika zu der Party gefolgt ist. Er fühlt sich verantwortlich, will sie beschützen. Er schreit den Fotografen an, und der verschwindet im Dunkeln. Timon will Angelika das Herz aus der Hand nehmen, sie wehrt sich, es klatscht auf die Straße. Angelika bückt sich, hebt es hoch, drückt es sich an die Brust. Sie kommt Timon wie ein Kind vor, dem man den Teddy wegnehmen möchte, so weinerlich: „Ihr sollt mir endlich mein Herz lassen!“

Jetzt geht der zweite, der dritte Blitz des Fotografen los. Timon rennt zu dem Mann, verfolgt ihn, und als der Fotograf fällt, tritt Timon mit den Füßen auf ihn ein. Angelika kommt hinzu, sie atmet kurz, sie flüstert: „Bitte. Töte ihn nicht.“

Timon macht einen Schritt zurück. Bleibt erstarrt stehen. Angelika reicht ihm ihr Herz, er greift reflexhaft danach. Sie kniet sich neben den Mann. Bringt ihn in eine stabile Seitenlage. Sie sagt: „Wir rufen jetzt die Rettung.“ und ist mit einem Mal wieder das vernünftige, besonnene Mädchen.

Timon tippt den Notruf in sein Handy, hält sich das Telefon an das rechtes Ohr, und mit der linken Faust umfasst er die Hohlvene des Herzens. So steht er auch noch da, als das Auto mit dem Blaulicht in die Straße eingebogen ist.

… und so weiter…

Wie mir Szenen begegnen (Herz 1)

Schweineherz. Quelle: graffiti-online.net
Schweineherz. Quelle: graffiti-online.net

Hier ein Beispiel, wie ich mich Szenen nähere. Es geht wieder um Angelika, das herzkranke Kind. Das seine Transplantation verweigert. Ich denke an das Verrückteste, das mir in diesem Zusammenhang einfällt.

Ein Schweineherz. Präziser: Angelika trägt ein Schweineherz. Noch präziser: Sie hält mit ihrer rechten Faust die Hohlvene umklammert, und das Herz schlägt bei jedem Schritt gegen ihr Bein. (So habe ich nun eine Anspielung, eine Referenz auf das schlagende Herz, für jenen Leser, der solches entdecken will.)

Das Bild drückt diesen Riss aus, der Angelika durchzieht: einerseits die Selbstbeherrschte, andererseits das Verrückte, das Todesnahe.

Das ist ein Bild, noch lange keine Szene. Ich brauche jemanden, der dieses Bild sieht (Timon, meinen Protagonisten). Ich brauche seine Schreibhaltung für die Szene. Und: es muss in den Roman hineinpassen, sonst wird es zum Darling.

Wie ich hineinschlittere

Ich will hier an Hand eines Beispiels beschreiben, wie leicht ich hineinschlittere.

Lassen wir es mit einer BBC-Fernsehdoku beginnen. Titel: „Bright Young People“. Thema: Zwanzigerjahre. London. Eine Gruppe junger Leute und ihre exzessiven Parties. Jung, wild, Geld, Drogen, und in jeder Geste eine Übertreibung. Ihre Leben wurden in Romane gegossen, die Romane verfilmt…

Diese Filmsequenz sehe ich mir wieder und wieder an. Mit Kopfhörern, laut, ich brauche jetzt das Trommelnde. Werde hineingezogen ins Rote, durch die tanzende, lachende Menschenmenge, trinkend und Kokain einsaugend, und mittendrin ist Nina, die Tanzende, die Zuckende, die ihre Arme um sich wirft. Ihr Kopf geht hin und her und scharf hinauf, jede Bewegungen an ihr beginnt so plötzlich und endet so abrupt, sie verharrt den Bruchteil eines Augenblicks – und dann weiter, und schneller und wieder. Sie sagt: „I’ve never been more bored in my life“, und jetzt geht es los in mir.

Ich mache Nina zu meiner Angelika, 14 Jahre, die ihre Herztransplantation verweigert. In den vorangegangene Kapiteln das zurückhaltende, tapfere Mädchen – jetzt, mit diesem Film, ist sie ausgerissen. Eine Nacht lang Party, ein paar Stunden normal sein. Pechschwarz geschminkt ihre Augen, ihr Haar in wirrer Dauerwelle, ein Kleid, das hoch über dem Knie aufhört. Und in ihrer Hand eine halbgeleerte Flasche mit blauer Flüssigkeit.

In diese Szenerie stolpert Timon – wie ein Fremder, der Angelika ausfindig macht, der ihr sagt: „Bist du verrückt? Das hält dein Herz nicht aus.“

Sie schaut ihn an, reißt die Augen auf, dass es stechend weiß wird inmitten ihrer schwarzen Schminke. Sie beugt sich zu ihm, nahe an sein Ohr. Sie sagt: „Krank bin ich vielleicht, aber tot noch nicht.“

Sie macht einen Schluck aus der Flasche. Ruckartig wendet sie sich ab, verharrt einen Atemzug lang mit dem Rücken zu Timon. Dann reißt sie die Arme empor und tanzt und schreit in den trommelnden Lärm: „Ich lebe! Ich lebe!“