Ein Plot motiviert nicht einmal zum Weiterlesen.
Ein Plot hindert den Leser lediglich am Aufhören.
Der nicht ganz naheliegende, bei näherem Hinsehen jedoch zwingende Unterschied liegt in Folgendem: Wenn ein Leser weiterlesen möchte, dann liest er weiter, weil ihm das Buch gefällt. Wer hingegen einem Plot folgt, liest nicht deshalb weiter, weil ihn das Buch gerade jetzt, an der Stelle, die er liest, in sich hineinzieht, sondern weil er denkt, daß ihm das Buch gleich, sobald er diese Stelle hinter sich hat, gefallen wird; der Leser bekommt in jeder Zeile suggeriert, daß das Spannendste noch kommt. Die gerade gelesene Stelle erzeugt eine unerträgliche Spannung, der Moment ist nicht erfüllt, muß sich aber erfüllen, wenn die Zeit, die man dafür aufwendet, sich gelohnt haben soll. Der Leser wird durch das Versprechen einer Bedürfnisbefriedigung am Ende der Lektüre bei der Stange gehalten. Nicht weil ihm die Geschichte gefällt, liest er, sondern des Versprechens wegen.
Aus: Jagoda Marinic: Netzhaut
Schlagwort: Spannungsbogen
Spannungsbogen
Werden dem Leser Ereignisse versprochen, ist er bereit abzuwarten, und jeder Hinweis, dass bald etwas passieren könnte, erhöht seine Bereitschaft. Damit entsteht Spannung.
Beispiel 1: Ein Paar frühstückt. Er sagt, dass er erst um zehn in der Arbeit sein muss. Sie meint, da könnte er sie doch zum Friseurtermin fahren. Er will nicht. Sie drängt ihn.
… banal?
Beispiel 2: Im Keller eines Hauses ist eine Bombe. Der Zeitzünder ist auf 9:30 eingestellt. Vier Meter über dem Keller: Ein Paar frühstückt. Er sagt, dass er erst um zehn in der Arbeit sein muss. Sie meint, da könnte er sie doch zum Friseurtermin fahren. Er will nicht. Sie drängt ihn.
… nun ist dasselbe anders, irgendwie.
Ablauf eines Schreibtags
07:30 Wecker. Aufwachen. Freude: Ein Schreibtag, ein ganzer Schreibtag liegt vor mir.
08:30 Fertig mit Herumsurfen und Joghurtfrühstücken. Ich erkenne, da gibt es ein literarisches Problem, das hemmt den Schreibfortgang. Um den Spannungsbogen aufrecht zu halten, darf ich gewisse Informationen jetzt noch nicht preis geben – andererseits brauche ich gerade jetzt eine emotionale Szene, für die ebendiese Information nötig ist. Ich gehe auf und ab. Verdammter Widerspruch.
10:30 Ich telefoniere. Ich beantworte E-Mails. Ich sehe nach, ob es am Mexikanischen Golf etwas Neues gibt. Ich mache das an diesem Tag wohl zehn Mal. Der Spannungsbogen ist wichtig, denn etliches, was ich bereits geschrieben habe, baut auf diese Dramatik auf.
11:30 Ich weiß, dass ich in einer Stunde fort muss. Die Zeit drängt. Ich tippe, was mir einfällt. Immerhin, ich schließe die Szene ab.
12:30 Mittagessen mit einem Freund.
14:00 Herumsitzen vor dem Laptop. Die nächste Szene. Da ist etwas, was ich jetzt gerne schreiben würde. Was gut passen würde, von der Gefühlslage der Personen. Aber es passt nicht. Wegen des Spannungsbogens.
15:15 Ich schaffe das Denken nicht mehr. Ich lege mich schlafen, mit dem Preis, dass ich dadurch Arbeitszeit verliere.
16:00 Wecker. Aufwachen. Benommenheit. Schwere. Der Schreibtag ist fast zu ende. Mein literarisches Problem mit dem Spannungsbogen ist immer noch da. Wieso denn auch nicht. Ich schreibe, über das, was für meine Romanpersonen am Nächstliegendsten ist. Ich montierte bereits Geschriebenes zu einer Szene. Zu einer langen Szene. Ich pfeife auf den Spannungsbogen. Ich weiß, dadurch wird etliches, was ich bereits geschrieben habe, fallen. Auch schon egal.
19:30 Eine kleine Szene schreibe ich noch. Einen Dialog. Sieh an, der hat plötzlich auch noch mal 3000 Zeichen.
20:45 Ich gehe laufen.
21:30 Ich sehe mir einen Film an und esse zu Abend.
23:30 Ich tippe diesen Blogeintrag.
Informationen nicht auf einmal preisgeben
Angelika ist a) herzkrank, weil sie b) mit vier eine Chemotherapie hatte. Nun braucht sie c) eine Transplantation und d) verweigert diese.
In einer früheren Fassung erfuhr der Leser all das von Angelikas Mutter binnen einer Buchseite.
Damit vergebe ich mir 1) Spannungspotential. Zudem könnte ich 2) emotionsbehaftete Informationen von verschiedenen Personen übermitteln lassen und damit diese Personen durch die Extremsituation plastisch machen.
Nun habe ich vier Szenen:
- Angelikas Mutter berichtet, dass Angelika herzkrank ist.
Spannungsbogen: Hoffentlich nichts ernstes! - Angelikas Tante sagt, dass Angelika eine Transplantation braucht.
Spannungsbogen: Wird die Operation gut gehen? - Angelikas Mutter sagt, dass sie Angst hat. Weil sich Angelika nicht operieren lassen will.
Dramatische Frage: Warum will sich Angelika nicht operieren lassen? - Angelika sagt, weshalb sie die Operation verweigert; sie erzählt von der traumatischen Chemo.
Dramatische Frage: Kann man sie umstimmen?
Fallhöhe
… ist ein Begriff, den ich von den Kollegen des Theaters im Stockwerk gelernt habe:
Fallhöhe ist das, was eine Person zu verlieren hat, sollte ein bestimmtes Ereignis eintreten. Klassisches Beispiel: Ein Mensch, der in das Gefängnis muss, wenn seine Hochstapelei auffliegt.
GRAUKO schreibt eben ein Theaterstück, und nach dem ersten Entwurf kam von den Theaterkollegen der Wunsch, die Fallhöhe der Hauptperson zu vergrößern. Um die Spannung zu steigern. Klassisches Beispiel: Der Hochstapler von vorhin, der jemanden umbringt, um sein Geheimnis zu vertuschen. Und nun als Mörder gejagt wird.
Die Fallhöhe ist ein Hilfsmittel, um einen Spannungsbogen zu erzeugen und zu halten.