Zeigen, ohne zu werten oder: Die beiden Pole der erotischen Literatur

Beim Sex in der Literatur gibt es für mich zwei entgegengesetzte Pole.

Der eine Pol ist das, was Henry Miller mit seiner Innenschau vertritt, wo alle Sinneswahrnehmungen zweitrangig bleiben.

Der andere Pol ist für mich die Knappheit in der Ausführung, vertreten durch Pauline Réage. Die Autorin schrieb nur ein Buch. Das jedoch erregte ungeheures Aufsehen, wurde ein Bestseller in Frankreich, war zeitweise der meistverkaufte französische Roman außerhalb Frankreichs, wurde zweimal verfilmt. Und war – ebenso wie Henry Millers Werke – jahrzehntelang indiziert.

Man hatte O aufs neue die Augen verbunden.

Nun musste sie näherkommen, sie schwankte ein bisschen und spürte, dass sie vor dem Kaminfeuer stand, an dem die vier Männer saßen: sie fühlte die Hitze, sie hörte die Scheite leise in der Stille knistern. Sie stand mit dem Gesicht zum Feuer. Zwei Hände hoben ihren Umhang hoch, zwei weitere glitten an ihren Hüften entlang, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass die Armreifen festgemacht waren: sie trugen keine Handschuhe und eine von ihnen drang von beiden Seiten zugleich in sie ein, so abrupt, dass sie aufschrie.

Pauline Réage: Die Geschichte der O

In dieser Szene arbeitet die Autorin mit nichtvisuellen Sinneseindrücken (denn der O wurden die Augen verbunden). Sinnlichkeit wird hier durch Sinneswahrnehmung vermittelt. Überhaupt ist der ganze Roman streng aus der Sicht der O geschrieben; es werden ihre Sinneseindrücke vorgeführt, selten jedoch ihre Gedanken und Meinungen. Während bei Henry Miller stets seine Interpretation dominiert, überlässt es Pauline Réage dem Leser, die Ereignisse zu bewerten.

„Wie ein fackeltragender Taucher im Leib eines toten Seeungeheuers“

Es war ein Fickparadies, und ich wusste es und war bereit, nur allzu bereit, mich, wenn nötig, um den Verstand zu ficken. Sie war vermutlich der beste Fick, den ich je gehabt habe. Nicht ein einziges Mal machte sie die Klappe auf, nicht in dieser, auch nicht in der nächsten oder sonst einer Nacht. Sie schlich sich im Dunkeln herunter, sobald sie mich dort allein witterte, und stülpte ihre Möse über mich aus. Es war eine riesige Möse, wie ich mich erinnere. Ein dunkles, unterirdisches Labyrinth, ausgestattet mit Diwans und gemütlichen Ecken, Gummizähnen und Fliederbüschen, sanften Ruheplätzen, Eiderdaunen und Maulbeerblättern.

Der Ich-Erzähler lässt mir keine Chance, dass ich mir von der Möse selbst einen Eindruck mache. Stattdessen überschüttet er mich mit fremdartigen, sprunghaften Assoziationen und wertet wild drauflos („der beste Fick“, „Es war ein Fickparadies“). Wenn er über eine Möse schreibt, geht es nicht um eine Möse, sondern darum, was diese Möse beim ihm ausgelöst hat. Alles dreht sich um den Erzähler. Ausschließlich.

Show, don’t tell? Vergiss es!

Aber.

Alle diese surrealen Bilder, diese Übertreibungen, diese schrillen Wertungen, die hinterlassen bei mir ein Gefühl. Etwas, das im Text nicht ausgesprochen wird. Es hat mir der Sichtweise des Ich-Erzählers zu tun. Ich will weiterhin wissen, wie der Ich-Erzähler wahrnimmt und reflektiert. Damit ich mir eigenständig ein Bild machen kann. Von ihm und seiner Art wahrzunehmen. Denn die Art, wie er wahrnimmt, die beschreibt er nicht. Vielmehr zeigt er mir, wie er wahrnimmt.

Show, don’t tell? Selbstverständlich!

(Quelle der Zitate: Henry Miller: Wendekreis des Steinbocks. Rohwolt Taschenbuchverlag 2005. Seite 232 und Seite 173)

Mein Henry-Miller-Mythos

Neulich in der U-Bahn. Folgende Stelle zum ich-weiß-nicht-wievielten Male gelesen:

Wir kamen im Schutz der Dunkelheit beide mit unseren Heeren und erbrachen, aus entgegengesetzten Richtungen vorstoßend, die Tore der Zitadelle. Es gab keinen Widerstand gegen unser blutiges Werk; wir baten nicht um Pardon und gaben keinen. In Blut schwimmend kamen wir zusammen, eine blutbefleckte, grünlichtige Vereinigung in der Nacht, und alle Sterne außer dem wie ein Skalp über dem Loch in der Decke hängenden schwarzen Fixstern waren erloschen. Wenn sie richtig hergenommen wurde, spie sie wie ein Orakel alles aus, alles, was ihr im Laufe des Tages, gestern, vorgestern, letztes Jahr, alles bis zurück zum Tage ihrer Geburt, widerfahren war. Und nicht ein Wort, nicht die geringste Einzelheit war wahr.

Henry Miller: Wendekreis des Steinbocks.
Rohwolt Taschenbuchverlag 2005.
Seite 227.

Dann klappe ich das Buch zu, halte es fest wie etwas, an das ich mich festhalten kann und denke mir: Da ist ein weites Land aufgetan. Das sind Worte, die in mich einfahren, wie bei manchen Haikus, nein, ärger, das ist wie bei Kindheitsgerüchen, die an den Verstand vorbei direkt ins Gefühlte zielen. Die etwas auslösen. Was da in mir passiert, entzieht sich einfachen Worten.

Was immer es sein mag – offensichtlich ist es das krasse Gegenteil von Show, don’t tell. Miller hält sich nicht mit dem auf, was seine Sinne wahrnehmen. Steigt gleich hinein in seine Schlussfolgerungen. Er benutzt verfremdende Bilder was das Zeug hält. Keine Dialoge, keine Beschreibungen, aus denen ich etwas schließen könnte – Miller sagt mir, welche Meinung ich über diese Frau zu haben habe. Er bricht all die Regeln, die ich nutze. In dem Roman gibt es keine Handlung mit den üblichen Spannungsbögen und auch sonst nicht das übliche Zeug, das einen Leser bei der Stange hält. Der Ich-Erzähler gibt sich keine Mühe, sympathisch zu wirken. Der Roman ist eigentlich eine Schwanzbeschau, es wimmelt von Mösen und Männern, die nur ficken wollen.

Dennoch lese ich seine Bücher, und ich lese immer wieder in ihnen.

Henry Miller eröffnet mir ein weites Land, das jenseits der offensichtlich wahrnehmbaren Worte und Regeln liegt. Wie Lyrik. Bloß dass Miller auf diesem Land herumtrampelt und sich nicht schert, worauf er gerade getreten ist.

Show, don’t tell oder: Plappermäulige Blicke

Philipp Bobrowski ist treffend in seinen Ansichten rund um Textqualität.  Letztens las ich bei ihm etwas über plappermäulige Blicke:

Hoffend sah ich sie an. Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu und mir wurde ganz heiß.

In der Regel sagt so ein vielsagender Blick nur eines: Hier weiß jemand den Blick nicht zu deuten oder sich nicht auszudrücken. Im günstigsten Fall ist es die Figur, in den weitaus meisten Fällen ist es leider der Autor. Vor allem in den Texten von Schreibanfängern tummeln sich die vielsagenden Blicke an jeder Ecke. Dieses Geschnatter und Geplapper ist kaum auszuhalten. Mal ein vielsagender Blick wäre ja noch in Ordnung. Auf die Dauer kann man vom Autor aber durchaus verlangen, sich ein bisschen mehr Mühe zu geben, einerseits der Abwechslung wegen, andererseits, weil ein Blick eben so viel mehr (und Subtileres) sagen kann als viel.

Übrigens sind tiefgründige Blicke meist nicht weniger oberflächlich. Und auch ein hintergründiges Lächeln sollte nicht ständig in den Vordergrund gerückt werden.

Sinneseindrücke oder: Das Einfache ist das Schwierige

„Geh hinaus und notiere, was deine Sinne wahrnehmen.“ – So lautet die zentrale Übung vom ersten Seminartag des Texthobels. Einfach, nicht wahr?

Und damit nichts schiefgehen kann, teile ich Zettel aus, auf denen steht: Gefragt sind ausschließlich Sinneseindrücke, nichts Gedachtes und keine Wertungen. Es müssen keine ganzen Sätze sein. Die Notizen müssen weder zusammenhängend noch geordnet sein.

Emotionen werden beim Leser über Sinneneindrücke ausgelöst. Autoren müssen daher imstande sein, Sinneseindrücke einzusetzen. Sie müssen unterscheiden können, welche ihrer Worte unmittelbare Wahrnehmungen transportieren und welche ihrer Worte Interpretationen sind.

Wenn die Teilnehmer von ihrer Arbeit zurückkehren und mir ihre Texte vorlesen – was höre ich? Zusammenhängende Geschichten, geschliffen formulierte Gedanken, wertende Adjektive und witzige Anmerkungen. Eloquent sind sie allemal, die Schreibenden, aber was sie von dieser Welt sinnlich wahrnehmen, darüber scheinen viele nicht gern zu sprechen.

Erstaunlich, wie schwierig es ist, nicht zu denken und stattdessen zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu sehen und zu spüren.

Damit es unter die Haut geht. Bilder als literarisches Werkzeug.

Ein Bild bildet ab: von der Welt des Autors in die vertraute Welt des Lesers. Ein Bild sorgt dafür, dass eine Aussage besser zum Leser durchdringt. Denn durch das Bild bedient sich der Autor der Alltagssprache des Lesers.

Sehen wir uns zwei Beispiele an. Sie stammen beide von Herbert Zands Roman „Letzte Ausfahrt“. Zand sagt nicht, dass der Krieg schrecklich ist – er vermittelt es uns. Er transportiert für uns den Krieg in eine Sprache, die wir verstehen – wir, die noch nie einen Krieg erlebt haben. Und dies tut er mit wenigen Worten, denn seine Bilder sind treffsicher.

Dabei bedient er sich schöner Bilder, die ganz im Gegensatz zum Gräuel stehen. Im ersten Text ist es eine Pappelallee, im zweiten ist es ein Organismus mit pulsierendem Herz und Aderngeflecht.

Wie schwarze Pappeln einer nächtlichen Allee standen die Einschläge aufgereiht längs den Straßen. Ihre Kronen verbreiterten sich und wallten ab vor leichtem Wind über den grauen Feldern des Vorfrühlings. Der Anblick war rein äußerlich fast schön, zugleich grotesk, zugleich furchtbar. Und dann bog diese Pappelallee plötzlich ab von der Straße und sprang in großen Sätzen über das Feld nach Osten. Nach einer Weile sahen sie, was geschah: Die Division im Frontbogen versuchte, mit Lastautos und Schleppern über die aufgeweichten Äcker her durchzubrechen, Autorudel, Autoherden kamen herangeschwankt, schwarze Schildkröten mit schief sitzenden Hauben aus immergrünem Gebüsch. Dazwischen jetzt der schwarze Pappelwald, den die Flieger in sie hineinpflanzten, die grauroten Feuerfahnen, die sie ihnen zuwarfen, und die das eine oder andere Fahrzeug bald hinter sich her durch den Schmutz schleifte.

Jetzt jedoch konnten sie auch hinabsehen in die weite Talebene des Nordwestens, wo die Schlacht im Gange war, und wie vorhin am Himmel, sahen sie die langen Ketten, nur daß sie diesmal einem Geäder glichen, einem großen Flechtwerk. Nicht mehr zehn oder fünfzehn Glieder hatten diese Ketten, die dort über dem Boden hinhuschten, sondern unendlich viele mehr, unzählbar viel mehr, denn sie verschwanden schon wieder, kaum dass man sie sehen konnte. Ein Netz von entzündlichen Adern war das große Becken, in dem der Gegner eingebrochen war. Die Linien überschnitten sich vielfach, wechselten in ihren Farben, wechselten in der Intensität ihrer Strahlungskraft, ähnlich dem Auf- und Abglühen mancher Sterne, dem Sichdrehen der Lungen, dem Schlag des Herzens. Tausende von Schützen und Kanonieren mussten an ihren Waffen sitzen und liegen, um dieses Geäder hervorzubringen, es schlangenhaft herauswinden aus Munitionskosten und Patronenkästen, keiner achtete auf den anderen, und dennoch waren sie eingespannt in einen Rhythmus, untertan einem Gesetz, das dem sich eröffnenden Bild zugrunde lag, sie funktionierten wie Systole und Diastole des Herzens, ob sie sich nun Freund waren oder Feind, sie gehörten zusammen, sie waren ein einziger großer Körper, der Organismus der Schlacht.

Kritik am Handwerk eines Autors

In einem Krimi las ich folgende Stelle:

[Er] war ein kränklicher Mann von kleinem Wuchs; er war Beamter in irgendeiner Behörde, war geradezu auffallend blond und hatte einen kurzen Backenbart, auf den er sehr stolz war. Überdies schmerzten ihn fast ständig die Augen. Sein Herz war ziemlich weich, doch seine Rede höchst selbstsicher und manchmal geradezu anmaßend – was im Verein mit seiner zarten Gestalt fast immer lächerlich wirkte.

  1. Der Autor wertet, anstatt zu zeigen (vergleiche dazu: Show, don’t tell): Es wird gesagt, dass der Mann klein sei, ohne zu zeigen, wie groß er nun ist; der Mann wirkt lächerlich, aber dem dem Leser wird keine die Möglichkeit gegeben, diese Lächerlichkeit zu erleben. Der Autor schreibt vor, was der Leser empfinden soll (Regieanweisung).
  2. Viele Adjektive: Statt „geradezu auffallend blond“ würde eine „auffallend blond“ genügen – denn was ist der Unterschied zwischen „geradezu auffallend“ und „auffallend“? (Robert Schindel nennt diese überflüssigen Worte „Füllselworte“) Wie darf ich mir einen „geradezu auffallend blonden“ Mann vorstellen? Rotstichig? Albinohaft? Der Autor hätte mir das vermitteln können.
  3. Übertreibungen haben den gegenteiligen Effekt: „selbstsicher“ wirkt beim Leser stärker als „höchst selbstsicher“, und „sehr stolz“ schmälert den „stolz“.
  4. Übertreibungen, die durch ein Adjektiv relativiert werden: Was bedeutet „fast ständig“? Ein „ständig“ mit einem „fast“ zu mindern, solche sprachlichen Hakenschläge stumpfen ab; hier würde ein „oft“ wohl genügen. Ähnlich bei „fast immer lächerlich“, da täte es ein „lächerlich“; denn die Zeitraumbeschreibung „fast immer“ bringt den Leser (gefühlsmäßig) nicht näher an den beschriebenen Mann.
  5. Literarische Ungerechtigkeit: Einen Mann gleich von Anfang an als lächerlich zu werten widerspricht dem Prinzip der erzählerischen Gerechtigkeit, wie sie etwa von Robert Schindel eingefordert wird.

Der Autor, so scheint es mir, wollte sich nicht die Arbeit antun, dem Leser zu vermitteln, was er sieht – der Leser erfährt bloß die Zusammenfassung, die Schlussfolgerungen. Dem Leser wird hier keine Chance gelassen, sich selbst ein Bild zu machen.

Welchem Krimi ich diese Stelle wohl entnommen habe?

Show, don’t tell, Teil II oder: Der Autor bricht die Regeln

„Show, don’t tell“ heißt, wie gesagt, das Geschehen wirken lassen, ohne zu werten. Ich zeigte auch, wie Dostojewskij in Schuld und Sühne dieses Prinzip verwendete und den Leser selbst zu seinen Empfindungen kommen lässt. Doch dann diese Stelle:

Ein Schweigen trat ein. Sowohl ihr Gespräch wie dieses Schweigen war mit Spannung geladen, ihre Versönung so gut wie die Bitte um Verzeihung, und alle fühlten das. (Dostojewskij in Schuld und Sühne, Teil III, Kapitel 3)

Hier werden Eindrücke und Gefühle genannt, anstatt sie beim Leser auszulösen; dies ist eine Art Regieanweisung an den Leser, wo ihm mitgeteilt wird, was er denn von dieser Situation zu meinen habe. Dem Leser wird kein Raum gegeben, diesen Eindruck selbst zu entwickeln oder sich eine abweichende Meinung zu bilden. Die Gefahr dabei ist die Inkonstienz: Dass der Eindruck, den der Leser hat, ein anderer ist als jener Eindruck, den der Autor benennt.

Als Autor habe ich die Verpflichtung, eingefahrene Muster zu hinterfragen und aufzubrechen. Dies gilt für das Inhaltliche, natürlich, aber auch für meine Art zu Schreiben. Um dies gezielt tun zu können, muss ich mit den Gesetzmäßigkeiten vertraut sein, sonst scheitere ich.

Ein schön gescheitertes Beispiel aus der bildenden Kunst ist Das Abendmahl von da Vinci, das kaputt ist, weil da Vinci die Freskotechnik nicht beherrschte.

Als Autor brauche ich Erfahrung mit handwerklichen Mitteln, um diese bewusst nicht einzusetzen. Dann verzichte ich bewusst auf deren Wirkung, um dafür etwas anderes zu entfachen.

Das Geschehen wirken lassen, ohne zu werten („Show, don’t tell“)

Geschehnisse wirken, wenn der Autor Gefühle auslöst, anstatt sie bloß zu nennen. Indem der Autor die Personen dem Leser vorführt, bekommt der Leser die Chance, Gefühle dafür die Personen zu entwickeln.

Der Leser ist mündig, seine eigenen Gefühle zu entwickeln. Ein Autor, der ihm sagt, welche Gefühle die Personen haben, entmündigt und stört. Zudem ist es legitim, wenn der Leser einen anderen Eindruck bekommt als es Absicht des Autors war.

Anstatt etwa zu schreiben „Der Junge fürchtet sich, dass ihn die Mutter schlägt“ sollte man zeigen, wie sich der Junge verhält – denn dann kann sich der Leser in die Furcht hineinfühlen. Dostojewskij in Schuld und Sühne macht es folgendermaßen:

Das kleinste, etwa sechsjährige Mädchen schlief auf dem Fußboden, in halb sitzender Stellung, zusammengekauert und den Kopf an das Sofa gelehnt. Der um ein Jahr ältere Knabe stand, am ganzen Leibe zitternd, in einer Ecke und weinte. Er hatte wahrscheinlich eben erst Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, das etwa neun Jahre alt sein mochte, hoch aufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, hatte als Kleidung nur ein schlechtes, überall zerrissenes Hemdchen und um die nackten Schultern eine alte Pelerine von drap de dame, die wahrscheinlich vor zwei Jahren für sie gemacht war, da sie jetzt nicht einmal bis an die Knie reichte. Sie stand in der Ecke neben dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, mageren Arme umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und suchte ihn auf jede Weise von erneutem Losschluchzen abzuhalten; dabei verfolgte sie ängstlich die unruhige Wanderung ihrer Mutter mit ihren großen, dunklen Augen, die in ihrem abgemagerten, furchtsamen Gesichtchen noch größer erschienen.