Verliebt sein wie Henry Miller

Ich will schreiben können. Wie Henry Miller. Ohne Kompromiss und so grobschlächtig, wie es eben das Gefühl erfordert.

Ich bin ein Desperado der Liebe, ein Skalpjäger, ein Totschläger. Ich bin unersättlich. Ich esse Haare, schmutziges Ohrenschmalz, trockene Blutklumpen, alles und jedes, was von dir stammt. Zeig mir deinen Vater mit seinen Papierdrachen, seinen Rennpferden, seinem Freibillet für die Oper: Ich werde alle in mich hineinstopfen, mit Haut und Haaren verschlingen. Wo ist der Stuhl, auf dem du sitzt, wo dein Lieblingskamm, deine Zahnbürste, deine Nagelfeile? Zeig sie her, damit ich sie auf einen Sitz verschlinge.

Du hast eine Schwester, schöner als du, sagst du. Zeig sie mir – ich will ihr das Fleisch von den Knochen lecken.

(Aus: Henry Miller: Sexus. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009. Seite 13.)

„Ohne Erregung ist gar nichts. Können’S gleich im Bett liegenbleiben.“

Irgendwann will man entscheidende Abschnitte – wie heißt’s – festhalten.

Da kann man sich Freunde von früher reinziehen, zwischen die Buchdeckel. Und halt sie fest. Fotografiert sie. Liefert das aus. Das macht der Verleger.

Ohne Erregung ist gar nichts. Können Sie gleich im Bett liegenbleiben.

Ist ja auch eine Art Geschlechtsverkehr, nicht, ein Buch schreiben.

(Thomas Bernhard über Holzfällen)

Kein Sex ohne Grund

Erstmals seit fünf Jahren habe ich heute wieder eine Sexszene geschrieben. Der Unterschied zu früher? Ich habe die Ehrfurcht verloren. Sex ist auch nur etwas, was eine Romanfigur tut, wie Essen, Trinken oder einer Kuh beim Kalben helfen. Es sind zwar andere Arten von Tätigkeiten, aber die Beschreibung verlangt von mir dieselbe Achtsamkeit und Zielorientiertheit.

Es gilt: Kein Sex ohne Grund. Denn genauso, wie ich nicht aus bloßem Jux ein Essen, ein Besäufnis oder eine Kalbsgeburt in meinen Roman stelle. Sex im Roman hat für mich zwei Berechtigungen: Entweder (1) er treibt die Handlung voran oder (2) er eröffnet etwas über das Wesen der Romanperson.

So. Die Szene habe ich mal im GRAUKO-Schreibraum abgelegt und bin gespannt, was meine Kolleginnen und Kollegen meinen.

Lolita oder: Wertende Beschreibungen und literarische Gerechtigkeit

Naturhistorisches Museum, Hauptstiege

Lolita ist eine Säule der erotischen Literatur.

Ein Glanzstück von Nabokovs Erzählkunst ist etwa jene Szene, in der sich der Protagonist »die Süße eines Orgasmus erlistet, ohne die Moral einer Minderjährigen anzutasten.« (Seite 101).

Nabokovs Beschreibungen sind oftmals wertend. Etwa wie er die Mutter von Lolita schlecht macht:

Sie war offenbar eine jener Frauen, deren gewählte Sprache ihren Buchklub oder Bridgeclub oder eine andere todlangweilige konventionelle Einrichtung reflektiert, niemals aber ihre Seele; (Seite 60)

(Beachte die seltsame Zeitenfolge) – Doch dann gewinnt diese Frau massiv an Profil:

…fände Sie jemals heraus, dass ich nicht an Unseren Christlichen Herrgott glaubte, dann nähme sie sich das Leben. Sie sagte es so feierlich, dass er mir kalt über den Rücken lief. Und da wusste ich: Sie war eine Frau mit Grundsätzen. (Seite 123)

… und so gleicht er die Schieflage mit der vielgepriesenen literarische Gerechtigkeit aus.

Vielleicht soll ich mir an Nabokovs wertenden Beschreibungen ein Beispiel nehmen. Denn ein Blog – und mein Roman ist nun einmal der Blog von Timon – ist etwas Persönliches, Ungeschliffenes. Es ist ein Ort der Unklarheit und der Mühe, sich selbst Klarheit zu verschaffen. Ein Ort des Worte–um–sich–werfens und des Hin–und–her–wankens.

(Die Seitenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Vladimir Nabokov, Lolita, Rowohlt Taschenbuch Verlag, überarbeitete Ausgabe 2007)

Zeigen, ohne zu werten oder: Die beiden Pole der erotischen Literatur

Beim Sex in der Literatur gibt es für mich zwei entgegengesetzte Pole.

Der eine Pol ist das, was Henry Miller mit seiner Innenschau vertritt, wo alle Sinneswahrnehmungen zweitrangig bleiben.

Der andere Pol ist für mich die Knappheit in der Ausführung, vertreten durch Pauline Réage. Die Autorin schrieb nur ein Buch. Das jedoch erregte ungeheures Aufsehen, wurde ein Bestseller in Frankreich, war zeitweise der meistverkaufte französische Roman außerhalb Frankreichs, wurde zweimal verfilmt. Und war – ebenso wie Henry Millers Werke – jahrzehntelang indiziert.

Man hatte O aufs neue die Augen verbunden.

Nun musste sie näherkommen, sie schwankte ein bisschen und spürte, dass sie vor dem Kaminfeuer stand, an dem die vier Männer saßen: sie fühlte die Hitze, sie hörte die Scheite leise in der Stille knistern. Sie stand mit dem Gesicht zum Feuer. Zwei Hände hoben ihren Umhang hoch, zwei weitere glitten an ihren Hüften entlang, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass die Armreifen festgemacht waren: sie trugen keine Handschuhe und eine von ihnen drang von beiden Seiten zugleich in sie ein, so abrupt, dass sie aufschrie.

Pauline Réage: Die Geschichte der O

In dieser Szene arbeitet die Autorin mit nichtvisuellen Sinneseindrücken (denn der O wurden die Augen verbunden). Sinnlichkeit wird hier durch Sinneswahrnehmung vermittelt. Überhaupt ist der ganze Roman streng aus der Sicht der O geschrieben; es werden ihre Sinneseindrücke vorgeführt, selten jedoch ihre Gedanken und Meinungen. Während bei Henry Miller stets seine Interpretation dominiert, überlässt es Pauline Réage dem Leser, die Ereignisse zu bewerten.

„Wie ein fackeltragender Taucher im Leib eines toten Seeungeheuers“

Es war ein Fickparadies, und ich wusste es und war bereit, nur allzu bereit, mich, wenn nötig, um den Verstand zu ficken. Sie war vermutlich der beste Fick, den ich je gehabt habe. Nicht ein einziges Mal machte sie die Klappe auf, nicht in dieser, auch nicht in der nächsten oder sonst einer Nacht. Sie schlich sich im Dunkeln herunter, sobald sie mich dort allein witterte, und stülpte ihre Möse über mich aus. Es war eine riesige Möse, wie ich mich erinnere. Ein dunkles, unterirdisches Labyrinth, ausgestattet mit Diwans und gemütlichen Ecken, Gummizähnen und Fliederbüschen, sanften Ruheplätzen, Eiderdaunen und Maulbeerblättern.

Der Ich-Erzähler lässt mir keine Chance, dass ich mir von der Möse selbst einen Eindruck mache. Stattdessen überschüttet er mich mit fremdartigen, sprunghaften Assoziationen und wertet wild drauflos („der beste Fick“, „Es war ein Fickparadies“). Wenn er über eine Möse schreibt, geht es nicht um eine Möse, sondern darum, was diese Möse beim ihm ausgelöst hat. Alles dreht sich um den Erzähler. Ausschließlich.

Show, don’t tell? Vergiss es!

Aber.

Alle diese surrealen Bilder, diese Übertreibungen, diese schrillen Wertungen, die hinterlassen bei mir ein Gefühl. Etwas, das im Text nicht ausgesprochen wird. Es hat mir der Sichtweise des Ich-Erzählers zu tun. Ich will weiterhin wissen, wie der Ich-Erzähler wahrnimmt und reflektiert. Damit ich mir eigenständig ein Bild machen kann. Von ihm und seiner Art wahrzunehmen. Denn die Art, wie er wahrnimmt, die beschreibt er nicht. Vielmehr zeigt er mir, wie er wahrnimmt.

Show, don’t tell? Selbstverständlich!

(Quelle der Zitate: Henry Miller: Wendekreis des Steinbocks. Rohwolt Taschenbuchverlag 2005. Seite 232 und Seite 173)

Mein Henry-Miller-Mythos

Neulich in der U-Bahn. Folgende Stelle zum ich-weiß-nicht-wievielten Male gelesen:

Wir kamen im Schutz der Dunkelheit beide mit unseren Heeren und erbrachen, aus entgegengesetzten Richtungen vorstoßend, die Tore der Zitadelle. Es gab keinen Widerstand gegen unser blutiges Werk; wir baten nicht um Pardon und gaben keinen. In Blut schwimmend kamen wir zusammen, eine blutbefleckte, grünlichtige Vereinigung in der Nacht, und alle Sterne außer dem wie ein Skalp über dem Loch in der Decke hängenden schwarzen Fixstern waren erloschen. Wenn sie richtig hergenommen wurde, spie sie wie ein Orakel alles aus, alles, was ihr im Laufe des Tages, gestern, vorgestern, letztes Jahr, alles bis zurück zum Tage ihrer Geburt, widerfahren war. Und nicht ein Wort, nicht die geringste Einzelheit war wahr.

Henry Miller: Wendekreis des Steinbocks.
Rohwolt Taschenbuchverlag 2005.
Seite 227.

Dann klappe ich das Buch zu, halte es fest wie etwas, an das ich mich festhalten kann und denke mir: Da ist ein weites Land aufgetan. Das sind Worte, die in mich einfahren, wie bei manchen Haikus, nein, ärger, das ist wie bei Kindheitsgerüchen, die an den Verstand vorbei direkt ins Gefühlte zielen. Die etwas auslösen. Was da in mir passiert, entzieht sich einfachen Worten.

Was immer es sein mag – offensichtlich ist es das krasse Gegenteil von Show, don’t tell. Miller hält sich nicht mit dem auf, was seine Sinne wahrnehmen. Steigt gleich hinein in seine Schlussfolgerungen. Er benutzt verfremdende Bilder was das Zeug hält. Keine Dialoge, keine Beschreibungen, aus denen ich etwas schließen könnte – Miller sagt mir, welche Meinung ich über diese Frau zu haben habe. Er bricht all die Regeln, die ich nutze. In dem Roman gibt es keine Handlung mit den üblichen Spannungsbögen und auch sonst nicht das übliche Zeug, das einen Leser bei der Stange hält. Der Ich-Erzähler gibt sich keine Mühe, sympathisch zu wirken. Der Roman ist eigentlich eine Schwanzbeschau, es wimmelt von Mösen und Männern, die nur ficken wollen.

Dennoch lese ich seine Bücher, und ich lese immer wieder in ihnen.

Henry Miller eröffnet mir ein weites Land, das jenseits der offensichtlich wahrnehmbaren Worte und Regeln liegt. Wie Lyrik. Bloß dass Miller auf diesem Land herumtrampelt und sich nicht schert, worauf er gerade getreten ist.