Angelika (13) lässt sich von einem Freund (dessen Eltern eine Fleischerei haben) ein Schweineherz schenken.
Bei ihr dreht sich in den letzten Monaten alles um ihr Herz, um Leben und Transplanation. Sie kennt Abbildungen, Videos, Meinungen, Befunde. Timon wiederum hat ihr gesagt, dass er etwas erst dann wirklich begreift, wenn er es angegriffen, berührt hat. Timon ist ein haptischer Mensch, der ohne Geruchssinn auf die Welt gekommen ist.
Darum will Angelika das Herz berühren. Be–greifen. Und Schweineherzen, so hört man, sind Menschenherzen sehr, sehr ähnlich.
Nun: ist das kitschig? Was mir in diesem Zusammenhang hilft, ist GRAUKO. Auf die Kitschgefahr angesprochen, sagte Isolde einmal zu mir: „Schreib nur drauflos, Thomas. Wenn etwas kitschig ist, kürzen wir es dir schon.“ – Und die anderen GRAUKO-Mitglieder nickten beipflichtend.
Letztes Wochenende wieder einmal Autoren-Partyszenario. Ich erzählte von der Szene mit dem Schweineherzen, an der ich eben arbeitete. Und da kam eine gute Frage: „Woher hat Angelika das Schweineherz?“
Ich antwortete: „Kein Problem. Findet die Party eben in einer Fleischerei statt oder das Thema der Party ist Schwein oder … ach, mir wird schon was einfallen.“
Nun. Wenn die Party in einer Fleischerei stattfindet, dann braucht Angelika einen persönlichen Bezug zum Fleischer, vielleicht ist sie die Freundin des Tochter des Fleischers. Und: Warum hält sie das Herz in Ihrer Hand? Nun, sie will wissen, wie sich ein Herz anfühlt. Ihr Leben dreht sich doch nur mehr um ihr Herz – um das, das in ihr schlägt, der Herzmuskel, der zu groß ist, und dann das Herz, das man ihr einpflanzen will, alles Herz bei ihr, in ihr … und ein Schweineherz ist dem Menschenherzen sehr ähnlich.
Über solche Dinge habe ich den Rest der Party nachgedacht. Als Autor ist mir auf Parties nie langweilig, ich habe ja immer etwas, das mich beschäftigt.
Jetzt ist auch der Fotograf da, der Angelika mitten in der Nacht fotografiert, betrunken, gerade von einem Fest gekommen, das Schweineherz in ihrer rechten Faust. Sein Blitzlicht macht sie blind für einen Moment. Sie stolpert weiter. Und da ist Timon, der Angelika zu der Party gefolgt ist. Er fühlt sich verantwortlich, will sie beschützen. Er schreit den Fotografen an, und der verschwindet im Dunkeln. Timon will Angelika das Herz aus der Hand nehmen, sie wehrt sich, es klatscht auf die Straße. Angelika bückt sich, hebt es hoch, drückt es sich an die Brust. Sie kommt Timon wie ein Kind vor, dem man den Teddy wegnehmen möchte, so weinerlich: „Ihr sollt mir endlich mein Herz lassen!“
Jetzt geht der zweite, der dritte Blitz des Fotografen los. Timon rennt zu dem Mann, verfolgt ihn, und als der Fotograf fällt, tritt Timon mit den Füßen auf ihn ein. Angelika kommt hinzu, sie atmet kurz, sie flüstert: „Bitte. Töte ihn nicht.“
Timon macht einen Schritt zurück. Bleibt erstarrt stehen. Angelika reicht ihm ihr Herz, er greift reflexhaft danach. Sie kniet sich neben den Mann. Bringt ihn in eine stabile Seitenlage. Sie sagt: „Wir rufen jetzt die Rettung.“ und ist mit einem Mal wieder das vernünftige, besonnene Mädchen.
Timon tippt den Notruf in sein Handy, hält sich das Telefon an das rechtes Ohr, und mit der linken Faust umfasst er die Hohlvene des Herzens. So steht er auch noch da, als das Auto mit dem Blaulicht in die Straße eingebogen ist.
Hier ein Beispiel, wie ich mich Szenen nähere. Es geht wieder um Angelika, das herzkranke Kind. Das seine Transplantation verweigert. Ich denke an das Verrückteste, das mir in diesem Zusammenhang einfällt.
Ein Schweineherz. Präziser: Angelika trägt ein Schweineherz. Noch präziser: Sie hält mit ihrer rechten Faust die Hohlvene umklammert, und das Herz schlägt bei jedem Schritt gegen ihr Bein. (So habe ich nun eine Anspielung, eine Referenz auf das schlagende Herz, für jenen Leser, der solches entdecken will.)
Das Bild drückt diesen Riss aus, der Angelika durchzieht: einerseits die Selbstbeherrschte, andererseits das Verrückte, das Todesnahe.
Das ist ein Bild, noch lange keine Szene. Ich brauche jemanden, der dieses Bild sieht (Timon, meinen Protagonisten). Ich brauche seine Schreibhaltung für die Szene. Und: es muss in den Roman hineinpassen, sonst wird es zum Darling.
Ich will hier an Hand eines Beispiels beschreiben, wie leicht ich hineinschlittere.
Lassen wir es mit einer BBC-Fernsehdoku beginnen. Titel: „Bright Young People“. Thema: Zwanzigerjahre. London. Eine Gruppe junger Leute und ihre exzessiven Parties. Jung, wild, Geld, Drogen, und in jeder Geste eine Übertreibung. Ihre Leben wurden in Romane gegossen, die Romane verfilmt…
Diese Filmsequenz sehe ich mir wieder und wieder an. Mit Kopfhörern, laut, ich brauche jetzt das Trommelnde. Werde hineingezogen ins Rote, durch die tanzende, lachende Menschenmenge, trinkend und Kokain einsaugend, und mittendrin ist Nina, die Tanzende, die Zuckende, die ihre Arme um sich wirft. Ihr Kopf geht hin und her und scharf hinauf, jede Bewegungen an ihr beginnt so plötzlich und endet so abrupt, sie verharrt den Bruchteil eines Augenblicks – und dann weiter, und schneller und wieder. Sie sagt: „I’ve never been more bored in my life“, und jetzt geht es los in mir.
Ich mache Nina zu meiner Angelika, 14 Jahre, die ihre Herztransplantation verweigert. In den vorangegangene Kapiteln das zurückhaltende, tapfere Mädchen – jetzt, mit diesem Film, ist sie ausgerissen. Eine Nacht lang Party, ein paar Stunden normal sein. Pechschwarz geschminkt ihre Augen, ihr Haar in wirrer Dauerwelle, ein Kleid, das hoch über dem Knie aufhört. Und in ihrer Hand eine halbgeleerte Flasche mit blauer Flüssigkeit.
In diese Szenerie stolpert Timon – wie ein Fremder, der Angelika ausfindig macht, der ihr sagt: „Bist du verrückt? Das hält dein Herz nicht aus.“
Sie schaut ihn an, reißt die Augen auf, dass es stechend weiß wird inmitten ihrer schwarzen Schminke. Sie beugt sich zu ihm, nahe an sein Ohr. Sie sagt: „Krank bin ich vielleicht, aber tot noch nicht.“
Sie macht einen Schluck aus der Flasche. Ruckartig wendet sie sich ab, verharrt einen Atemzug lang mit dem Rücken zu Timon. Dann reißt sie die Arme empor und tanzt und schreit in den trommelnden Lärm: „Ich lebe! Ich lebe!“