John Steinbecks Warnung vor einer bösartigen Falle

Beware of a scene that becomes too dear to you, dearer than the rest.

It will usually be found that it is out of drawing.

Quelle: Brain Pickings

Ja. Ja. Ja, so recht hat er, und so oft habe ich nicht darauf gehört! So oft falle ich wider besseres Wissen auf sie herein, auf diese schönen Szenen, diese wunderbare Textstellen, die ach so lesungsgeeignet sind, wo die Zuhörenden sagen: Der Mann kann so gut schreiben! Das sind Fallen. Schlimmer: Das sind Sirenen. Schlimmer: Da nützt kein Festbinden am Mast, kein Wachs in den Ohren. Da hilft mir nur ein Opfer für meinen Schreibgott.

Wieder ein Darling dem Schreibgott geopfert.

Nach der mehrfachen Rückmeldung, wonach der Einstieg etwas zäh ist, habe ich gestrichen. Schöne Stellen, finde ich. Aber sie leisten eben nicht die Geschwindigkeit, die der Roman eingangs braucht.

So ist dies nun eine weitere Gabe an Xo, Gott des Kürzens:

Und wenn ich abends heimkomme, so wie jetzt, und die Gedanken kommen wieder, und die Leere ist um mich, und ich kann dich nicht anrufen, dann kann ich immerhin schreiben. Denn beim Schreiben brauche ich mich nicht gegen Gedanken zu wehren – es genügt, sie mit dem blinkenden Cursor zum nächsten Wort weiter ziehen zu lassen, und irgendwann schieben nachfolgende Sätze die vorigen Gedanken ohnehin über den oberen Bildschirmrand. So ist es. Und Punkt. Ich brauche mich nicht mehr darum scheren, dass meine Sätze einen Zusammenhang ergeben. Die Gedanken sollen nur endlich über den Bildschirmrand hinaus gleiten. Punkt. Auch am Ende von diesem Satz steht ein Punkt. Und nach dem Punkt kommt ein Satz, der nur einer von unendlich vielen möglichen Sätzen ist – aber auf einen Punkt kann höchstens ein Satz anschließen. Genauso verhält es sich mit dem Wort: Jedes einzelne Wort nimmt all den richtigen Worten ihren Platz weg. Aber ich gebe nicht auf. Denn wenn ich schreiben kann, irgendetwas, dann kann ich doch genauso gut auch das Wesentliche erfassen. Dein Wesen. Das ist wie beim Lotto: irgendwann könnten die richtigen Zahlen kommen. Genauso können mir auch die richtigen Worte kommen. Denn wenn ich alles klar habe, für mich, dann wird es mir wieder gut gehen. Denn wenn ich dein Wesen beschreiben kann, wenn ich weiß, was das war, mit uns beiden, ja dann weiß ich automatisch, was ich bin, denn ich bin das, was von uns übrig ist. Es ist so einfach.

Ja, das ist es: ich schreibe gegen die Unwahrscheinlichkeit, dass ich mich ausdrücken kann. Und dich. Und uns ausdrücken kann. Jeder Punkt hilft mir dabei, eröffnet mir die Chance auf den nächsten Satz. Ein Neubeginn. Hoffnung, dass nun der Satz kommt, der ins Schwarze trifft. Der mein Leben vermisst – ich meine vermessen und nicht vermissen. Kannst du mir folgen? Nein, natürlich kann mir keiner folgen. Dort, wo ich jetzt bin, ist mir keiner hin gefolgt. Jedenfalls kann ich keinen sehen. – Ja, Bettina, ich habe einen Schuss. Ich weiß, Du hast ja schon immer gewusst.

Egal. Hier nun jener Satz, der mein Leben vermisst: Ich habe dich geliebt, und jetzt bist du tot. – Nein, das kann nicht sein, denn mir kommt vor, als hätte man dich mir erst vorhin aus der Umarmung gerissen, also liebe ich dich immer noch, es müsste lauten: du bist tot, und ich liebe dich immer noch … Ich scheitere beim Niederschreiben. Mein gewohntes Ringen mit den Worten. Zum Beispiel deine Umarmung: Ich trage zwar noch dieses Gefühl in mir – wenn ich die Augen schließe, spüre ich dich an meinen Armen, dein Gesicht deutlich in meiner rechten Halsbeuge, der Druck deiner Finger durch meine Jacke, dein Atem – aber es sind nur Äußerlichkeiten, die ich zu Papier bringe. Vielleicht, weil ich nicht genügend Worte kenne. Ich gehe kaputt, wenn ich so weitermache. Ich muss etwas tun.

„Erfolg kann ein großes Hindernis bei der Arbeit sein.“

„Sehr viel schreiben, sehr viel wegwerfen“

Schriftsteller Daniel Kehlmann plauderte bei „Unitalks“ über seine Studienzeit, stilistische Freiheiten und die guten Seiten von elektronischen Lesegeräten

Daniel Kehlmann ist ehrlich. „Als Autor wünsche ich mir, dass der Kindle verschwindet“, sagt er, „als Leser finde ich ihn wunderbar.“ Die ambivalente Einstellung des Schriftstellers ist das Resultat von nackten Zahlen. Für Autoren fällt bei der Verbreitung ihrer Bücher auf elektronischem Wege weniger Geld ab. Nach den bisherigen Verkaufszahlen seiner Bücher ist Geld für Kehlmann kein Thema mehr, viel lieber redet er über Literatur. Seine Leidenschaft, die gerade transformiert wird.

Den Verlust der Haptik, also ein Buch in Händen zu halten, hält er für „verschmerzbar“. Viel wichtiger sei ein anderer Punkt, nämlich die Demokratisierung von Wissen. Elektronische Lesegeräte wie Amazons Kindle ermöglichten sofortigen Zugriff auf große Teile der Weltliteratur, schwärmt der Leser im Autor. Komplizierte Vertriebswege werden obsolet, Bücher werden billiger.

Expansion der Bildung

Der digitale Segen besteht für Kehlmann darin, dass künftig Leute an den Rändern der westlichen Welt viel einfacher Zugang zu Bildung haben werden. „Man muss nicht mehr so reich sein, um an Texte heranzukommen“, so der Bestsellerautor, der diese Woche in Wien auf Einladung von „Unitalks“ mit Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann sein Studium Revue passieren ließ. Kehlmann ist Absolvent der Philosophie und Literaturwissenschaft, das Studium schloss er 1998 ab. „Unitalks“ ist eine Veranstaltungsreihe des Alumniverbands, bei der Abgänger der Uni Wien zu Gesprächen eingeladen werden.

Die Philosophie habe ihn sehr geprägt, berichtet Kehlmann, dennoch war klar: „Was ich wirklich wollte, war schreiben. Ich wusste nur nicht, wann und ob es gelingt.“ Dass es letztendlich gelungen ist, beweist ein kurzer Blick auf Kehlmanns Schaffen. Der 2005 erschienene Roman „Die Vermessung der Welt“ katapultierte ihn auf Platz zwei in der Liste der international bestverkauften Bücher. Im deutschsprachigen Raum ging der in zig Sprachen übersetzte Titel 1,5 Millionen Mal über den Ladentisch. Dimensionen, die für die meisten Autoren außer Reichweite sind.

Diplomarbeit und Roman

Kehlmann erzählt von einer „seltsamen Doppelexistenz“, mit der er in der Endphase seines Studiums konfrontiert war. Seine Diplomarbeit, Thema war Friedrich Schillers Entfremdungstheorie, schrieb er parallel zu seinem ersten Roman „Beerholms Vorstellung“. Ein „stilistisches Rollenspiel“, durch das er sich manövrieren musste. Literatur versus Wissenschaft. Der Roman war vorher fertig. „In meiner Diplomarbeit habe ich dann angeführt, wo ich schon überall Lesungen hatte“, sagt Kehlmann schmunzelnd. „Aus heutiger Sicht war das ziemlich uncool.“

Absurdität prägt die Bücher

Die fünfeinhalb Jahre, die er ins Studium investierte, waren auf keinen Fall verlorene Jahre, betont der Absolvent, aber: „Aus mir wäre kein guter Philosoph geworden.“ Die Bedeutung der Philosophie für seine schriftstellerische Tätigkeit schätzt er als „sehr, sehr groß“ ein. „Das prägt den Geist nachhaltig.“ Dementsprechend experimentiert Kehlmann in seinen Werken mit Referenzen auf Philosophen, die er teilweise in absurde Rollen schlüpfen lässt. In „Die Vermessung der Welt“ taucht etwa Immanuel Kant als seniler Mann auf: „Es ist wunderbar, Figuren einfach auftreten lassen zu können.“ Als Parodie oder entfremdet in einem anderen Kontext. „Die Lebendigkeit meiner Figuren entsteht aus der Lebendigkeit der Sprache“, sagt Kehlmann über den Schreibprozess. Sein Rat an junge Literaten: „Sehr viel schreiben, sehr viel wegwerfen.“ Nur so könnten sich Stil und Tonfall entwickeln.

In Bezug auf die Lehrbarkeit von „Schreiben“ zeigt sich der Autor skeptisch. Kreativschmieden, die Schriftsteller am laufenden Band produzieren, führten zu einer stilistischen Uniformität, die dem Literaturbetrieb schade. Auf der anderen Seite bestehe der Nutzen solcher Einrichtungen wie dem Leipziger Literaturinstitut im Austausch mit Gleichgesinnten: „Dieser Kontakt ermöglicht ein sehr produktives Konkurrenzverhältnis.“ Als Kehrseite der Medaille konstatiert er einen „enormen Wettbewerbsdruck“, der fürs Schreiben kontraproduktiv sei.

Weg der Vinylschallplatte

Besteller à la „Die Vermessung der Welt“ werde es in 30 bis 40 Jahren nicht mehr geben, ist er überzeugt. Gedruckte Literatur werde zwar nicht zum kompletten Minderheitenprogramm verkommen, die Öffentlichkeit dafür schrumpfe aber. „Das ist nicht der Weltuntergang.“ Und: „Das Buch wird den Weg der Vinylschallplatte gehen.“ Die größere Gefahr sieht er nicht im Untergang des Buches, sondern im Abnehmen der Konzentrationsfähigkeit. Durch das ständige Jonglieren mit den Kanälen brauche es ein hohes Maß an Selbstdisziplinierung, um längere Texte zu lesen. Mit einem Klick entfernt man sich quasi tausende Kilometer vom eigentlichen Thema. „Hier sehe ich eine Bedrohung für die Literatur.“ Ein Paradoxon des Bildungsgutes in der digitalen Welt: „Man kann alles nachschauen, deswegen hat man es weniger präsent.“ Durch das Navigieren gehe vielerorts die Orientierung verloren.

Die Orientierung verloren hat Kehlmann bereits bei Texten, die sich analytisch mit seinen Werken auseinandersetzen. Innerhalb von nur wenigen Jahren ist er vom Diplomanden zum Gegenstand von Diplomarbeiten avanciert. „Manchmal liest man Einleuchtendes über seine Texte“, sagt Kehlmann, allerdings sei es ungesund, so viele wissenschaftliche Abhandlungen über sich zu lesen. „Ich nehme das nicht so wahr.“ Außerdem seien diese Arbeiten schwer zugänglich. „Autoren schicken mir ihre Texte nicht.“ Und die Uni ist ein Mikrokosmos, an dem die Werke nicht zwingend digitalisiert werden.

Erfolg vor Augen kann blockieren

Den endgültigen Durchbruch schaffte der 37-Jährige mit dem im Jahr 2003 erschienenen Buch „Ich und Kaminski“. Ein Patentrezept, wie man als Autor reüssiert, gibt es naturgemäß nicht, nur: „Beim Schreiben sollte man nicht nachdenken, mit welchem Inhalt man erfolgreich sei kann.“ Das ändere sich permanent, Fragen wie diese müsse man aus dem Kopf verbannen. „Ein innerer Dressurakt“, so Kehlmann, denn: „Erfolg kann ein großes Hindernis bei der Arbeit sein.“

Angesprochen auf die Rolle eines Schriftstellers als Kritiker in der Öffentlichkeit meint Kehlmann: „Man macht sich leicht zum Narren oder zum Clown.“ Er rät, nicht permanent als Mahner oder Kommentator von gesellschaftlichen Ereignissen in Erscheinung zu treten: „Ich möchte mich nur zu Dingen äußern, wo ich etwas zu sagen habe.“ Aus dem Fenster gelehnt hat sich der Künstler bereits. Und zwar 2009 bei den Salzburger Festspielen, als er in seiner Rede das „Regietheater“ kritisierte und damit für Aufsehen sorgte. Dennoch sollten sich Schriftsteller nicht jedes Mal als „Lehrer des Volkes“ stilisieren: „Wir wissen auch nicht mehr als andere.“

Quelle: derStandard.at, 19.1.2012

Manuskript liegt bereit. Für rentsnik.

Das Manuskript liegt bereit. Für rentsnik – ich treffe sie kommende Woche, sie hat versprochen, mir feedback zu geben.

Es umfasst die ersten 250 Buchseiten, 134 A4-Seiten, 440.000 Zeichen und 500 Tippfehler (4 Stück pro A4-Seite sollten schon drin sein).

Ich habe in den letzten Monaten das Ding – wieder einmal – gründlich überarbeitet. 20% rausgeworfen. Ich mag es jetzt nimmer anschauen, ich will endlich weiter.

Mehr noch, ich denke an einen Zeitsprung – Den beginnenden Frühling im Roman gar nicht weiterverfolgen, sondern voll in den Sommer einsteigen. Und zwischenzeitlich hat sich in der übersprungenen Zeit einiges aufgebaut. Ich werde an Geschwindigkeit gewinnen.

Abschied, mehrfach

Erstens. Abschied vor Worten im Rahmen des normalen Kürzungsprozesses.
Gewisse Kapitel sagen mir einfach nichts mehr – ich lese sie und denke mir: ja, nett, okay, ich verstehe, welche Information ich mit denen verbreiten wollte, aber … sie berühren mich nicht. Also fort. Und die Info – so unbedingt nötig – im Rahmen anderer Kapitel mittransportieren.

Zweitens. Abschied von der Vorstellung, dass dieser Roman so-und-so dick wird. Werden muss.
Die Einleitung ist der derzeit auf 440.000 Zeichen zusammengeschmolzen (250 Buchseiten). Aber ich muss die 700 Seiten nicht erreichen, es reichen 500. Denn: Ist mein Ziel, einen guten Roman abzuliefern oder einen so-und-so dicken Roman abzuliefern?

Drittens. Ich muss nicht alles schreiben, was mir im Rahmen des Romans an (Neben-)Handlung begegnet. Selbst wenn es interessant ist!
Etwa die Geschichte, was vor Viola in dem Ort passiert war (Beginen, also ein Zusammenschluss selbständiger und darum verfolgter Frauen). Oder die Auswirkungen jahrhundertelanger Verdrängungskämpfe mit den Benediktinern (Weil: frauengeführtes Krankenhaus und am anderen Flussufer kontemplative Benediktiner, das verträgt sich nicht).

27% gekürzt

Bin am Überarbeiten. Ich gebe dem Roman mehr Geschwindigkeit und Zielgerichtetheit. Die 8. Fassung mit ihren 600.000 Zeichen (in etwa die Romanhälfte) ist Rohmaterial für die nun 9. Fassung.

In den vergangenen beiden Wochen habe ich aus den ersten 163.000 Zeichen einen Text mit 118.000 Zeichen geformt. Dessen Beginn könnt ihr hier nachlesen.

Es erinnert mich an die Arbeit eines Bildhauers: Der bestehende Text ist mein Stein, und so wie Henry Moore von truth to the material spricht, so lasse ich dem Stein sein Wesen und entferne das, was ich mittlerweile als unwesentlich erkannt habe. Es ist der Stein, der mit seinem Wesen das Werk bestimmt.

Schreibwerkstatt ’99: Der Wasserspeier

Letztens fiel mir folgende Schreibübung in die Hände, die aus der legendären Schreibwerkstatt von Julian Schutting 1999 in Maria Trost stammt. Es war die zweite Aufgabe. Sie lautete: Zur Kirche von Maria Trost hinüber gehen und etwas mit fremdartiger Sichtweise zu beschreiben.

Der Wasserspeier (Finale Fassung, 13.7.1999)

Wasserspeier gegenüber der Wallfahrtskirche Maria Trost. Errichtet 1934. Renoviert 1984 und zur Labung der Pilger wieder in Betrieb genommen.

Du gehst auf mich zu, ganz nahe stehst du bei meinem Gesicht, ich will mich abwenden, weil mir ekelt. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbrochene ein.

Ich will dich nicht sehen! Mir tun die Augäpfel schon weh, so fest schiele ich nach rechts. Gefesselt in Stein, nur mit dem Kopf in der Welt draußen, zur Unbeweglichkeit verdammt.

Du heuchelst Interesse für die Inschrift über meinem Kopf und starrst dabei nur mich an. Hör auf damit! Ich bin häßlich, ich weiß. Ein Engelsgesicht mit Pausbacken hätte ich sein sollen, doch die Stirnfalten entlarven ich als Greis. Laß dir den Mund von einer Metallröhre entstellen, laß dir von schwitzenden Männern die Hand auf das Gesicht legen, wenn sie sich zu deinen Lippen beugen, um deinen Ausfluß zu lecken! Deinen Zorn könnte auch kein Stein für sich behalten.

Und jetzt laß mich alleine.

Hier nun die beiden vorangegangen Entwürfe, die ich auf Anraten Schuttings einkürzte:

Der Wasserspeier (Fassung 1, 12. 7. 1999)
(Feedback: zu manieriert, in der Art „Ein Christbaum erzählt“, pseudonaiv, geht nicht auf, Perspektive stimmt nicht, im Zuschauen wäre dieser Ansatz gut.)

Du gehst auf mich zu, ganz nahe stehst du bei meinem Gesicht, ich will mich abwenden, weil mir ekelt. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbroche ein. Dir graut vor gar nichts, du bist wohl Schriftsteller. Davon muß es in der Nähe ein Nest geben, denn ein Dutzend deinesgleichen führt unbeflecktes Papier spazieren, ich sehe die verbissenen Gedanken, die den Kampf gegen die Allgemeinplätze längst verloren haben.
Ich schaue dich nicht an, auf den Haupteingang sehe ich, mir tun die Augäpfel schon weh, so fest biege ich meinen Blick nach rechts. Gefesselt in Stein, nur mit dem Kopf in der Welt draußen, bleibt mir nichts anderes übrig. Nur dort, auf den Stiegen, finde ich gelegentliche Abwechslung, wenn ich Brautpaare ins Glück treten sehe.
Du trinkst, als müßte ich deine geistige Leere füllen. Du ärgerst dich, daß der Strahl zu früh erlischt. Das will ich erleben, wie du mit fünfundsechzig so wie ich auf Knopfdruck Wasser lassen kannst!

Du heuchelst Interesse für die Inschrift über meinem Kopf und starrst dabei nur mich an.

Hör auf damit! Ich bin häßlich, ich weiß es selber, ein Engelsgesicht mit Pausbacken, das kitschiger ist als es selbst das Barock zuließe. Doch die Stirnfalten entlarven mich als Greis, sie verraten dir meine Leiden. Laß dir den Mund von einer Metallröhre entstellen, laß dir von schwitzenden Männern die Hand auf das Gesicht legen, wenn sie sich zu deinen Lippen beugen, um deinen Ausfluß zu lecken! Du würdest auch nicht glücklich dreinschauen.

Du trinkst noch einmal, gierig.

Ersticken sollst du an mir!

Du weichst zurück, bist du erschrocken? Weil du glaubst, mich grinsen gesehen zu haben? Du hustest, armer Mensch, die Luft will sich nicht von dir atmen lassen, vergänglicher Mensch! Du änderst deine Farbe, das kann ich nicht, du sinkst auf die Knie, das kann ich auch nicht.

Aber eines kann ich.

Dich überleben.

Der Wasserspeier (Fassung 2, 12. 7. 1999)

Mir ekelt vor dir. Du berührst mich, ich kotze, du bückst dich zu meinen Lippen und saugst das Erbrochene ein. Dir graut vor gar nichts, du bist wohl Schriftsteller.

Der Schriftsteller fährt zurück. Hat diese Worte tatsächlich jemand gesagt? Er schaut sich um. Niemand hier. Nur der Trinkbrunnen vor der Kirche. Der Schriftsteller liest die Tafeln, die anläßlich der Errichtung 1934 und der Renovierung 19xx angebracht worden sind. Der Wasserspeier erinnert den Schriftsteller an das Gesicht der barocken Engeln, die sich im Inneren der Kirche tummeln.

Ein zweiter Versuch, der Durst zwingt den Schriftsteller dazu. Er drückt nochmals den silbrigen Knopf unter dem Wasserbecken, doch das Wasser will nicht in seinen Magen.

Denn da ist das Lachen.

Der Schriftsteller hustet, das Flüssige schneidet die Luft ab, es brennt in der Nase.

Das Gesicht verliert plötzlich die kindlichen Züge. Die Stirnfalten entlarven es als Fratze eines Greises. Der Schriftsteller wendet sich ab, damit er wieder atmen kann.

„Gönnt euch doch mal ein Adverb!“

Ja, genau genommen – warum bei zwanzig- oder dreißigtausend aufhören? Wieso überhaupt noch schreiben? Warum kritzelt man nicht einfach einen Plot und ein paar Motive auf einen Briefumschlag und belässt es dabei? […] Na los, Jungschriftsteller – gönnt euch doch mal einen Witz oder ein Adverb! Lasst euch nicht lumpen! Den Leser stört das nicht! Habt ihr euch mal angesehen, wie dick Bücher sind, die an Flughäfen verkauft werden? Die Menschen mögen das Überflüssige.

Aus: Nick Hornby: Mein Leben als Leser

Oh, ich kürze nicht mehr! Im Gegenteil…

Wie ihr Blogleser wohl gemerkt habt, hatte ich eine Krise. Die resultiert nun in einer geänderten (sprich autobiografischen) Herangehensweise. Dank dessen bin ich meinem Protagonisten Timon viel näher als früher. So bin ich eben dabei, alles bisher Geschriebene zu überarbeiten.

Und nun ist etwas passiert. Im Unterschied zur früheren Arbeitsweise resultiert Überarbeiten nicht in Streichungen, sondern in Erweiterungen. Ich sehe den bisherigen Text als Skelett, das mit Fleisch zu füllen ist. Mit Sinneseindrücken, mit Sinnlichem. Timon verweilt nun. Ich nehme mir Zeit für jene Orte, an denen Timon ist.

Das schlägt sich auch an den Zeichenzahlen nieder: Mein überarbeiteter Romanbeginn umfasst per heute 105.000 Zeichen. Um denselben Handlungsfortschritt zu vermitteln, benötigte ich in der vorigen Fassung 68.000 Zeichen. Um die Hälfte mehr. Mein Roman wird länger.

Good bye, Monstrum!

Mindmap Romanpersonen - vorher
Mindmap Romanpersonen - vorher

Habe heute ein Romanperson weggestrichen. Von 20 auf 19 (10 lebende (grün), 9 tote (rot)). Das Monstrum ist weg. Schnipp und fort? Nein. Ein monatelanges Ringen. Letzten Oktober schrieb ich:

Ein Darling gehört zu meiner literarischen Eitelkeit; es ist etwas, womit ich mich gerne umgebe (n würde), weil es so schön scheint.

Fragen, die mir helfen, um ein Darling zu identifizieren:
1) Magst du es?
2) Wenn es nicht da wäre, was würde der Handlung fehlen?
3) Gehört es zu deinen Lieblingstextstellen?

Mindmap Romanpersonen - nach dem Kürzen
Mindmap Romanpersonen - nach dem Kürzen des Monstrums

Und was war damals schon mein Beispiel für so ein Darling?

In der Mindmap der Romanfiguren gibt es eine Figur, die „Monstrum“ heißt. […] Eine Art Fata Morgana des Schreckens. […] Ich gebe es zu: ich bin noch nicht bereit, dieses Monstrum zu entfernen. Soeben habe ich den ganzen Roman umgeschrieben, also da ist ein bisschen Geduld angesagt, ja?

Warum heute? Weil ich heute gefragt wurde, wozu ich denn das Monstrum im Roman bräuchte. Und weil ich keine rechte Antwort fand. Wie ihr seht, manchmal dauert es eben, bis ich mich von meinen Eitelkeiten befreie – geht es euch auch so?