Lisa warf etwas in die Wunsch-Box ein

Lisa hat in meine Wunsch-Box folgendes hineingestellt:

Liest du Blogs anderer Schriftsteller? Wenn ja, welche sind es?

Danke, Lisa! Deine Frage hat mir gezeigt: Die Struktur meines Blogs ist noch nicht gut gewesen. Denn sonst hättest du die Seite mit den weiterführenden Links gefunden. Darum habe ich deine Frage zum Anlass genommen, die rechte Seite des Blogs freundlicher zu gestalten.

Nun, Lisa, findest du, was du suchst? Wenn nicht, dann muss ich noch was ändern.

So ein Blog ist eben nie fertig :-)

Salsa. Oder das Schreiben von Romananfängen.

Nein. Nur nicht tanzen heute! Außerdem ist morgen Montag, dann geht der Stress im Projekt weiter, und ich muss doch schlafen. Was war das für eine Idee, ausgerechnet sonntags! Nicht nur heute, sondern alle kommenden fünf Sonntage. Ich will ein Buch lesen. Und acht Stunden Ruhe will ich haben. Aber stattdessen stehe ich auf der Kärntnerstraße herum, soeben vom U–Bahnschacht rolltreppenhaft emporgespien. Fußgängerzone mit seitlichem Schaufensterlicht, und ich friere, obwohl eigentlich Frühling sein sollte. Und schon gar nicht ertrage ich jetzt eine Salsa! Weil ich diese Musik nicht ausstehen kann. Dieses hektische Netz aus wirren Trommelschlägen und Trompetengetue, wo ich beim Tanzen keinen Einstieg für den ersten Schritt heraushöre, wo ich dazu verdammt bin, nach den Füßen der anderen Paare zu sehen, damit ich nicht außerhalb vom Takt wie der ärgste Anfänger herumimprovisiere. Lieber umkehren, lieber schnell nach Hause, ich schwöre, heute ich die Nacht, da könnte ich endlich wieder durchschlafen!

Eineinhalb Stunden, Heinz. Dann kannst du nach Hause. – Aber fünfmal hintereinander! – Heute ist es nur einmal, Heinz. Und wenn du daheim bist, stell dir vor, was wird dann wieder sein, mit dir?

Ich gehe weiter.

Dies ist der aktuelle Beginn von „ausgegraben“. Zugleich alles, was ich vom Roman in der 6. Fassung habe. Vor ein paar Stunden hatte ich ein paar Seiten mehr, habe es hinfortgekürzt. Weil ich eine kräftige Sprache brauche. Eine, die der Kellerszene von Violanum würdig ist.

Vor ein paar Tagen gab es folgenden Anfang:

Hinter meinen Augen, im Inneren meines Kopfes, dort drinnen arbeitet ein Räderwerk von kleinen und ganz kleinen Rädchen mit einem Surren, einem dermaßen pulsierendem Surren, dass ich es stillmachen muss und mir die Handflächen an meine Ohren presse. Aber das Vibrieren, das kann ich nicht aufhalten, das durchzieht meinen Schädel, das geht weiter zu den Knien, zu den Füßen, so dass ich mit den Beinen wippen muss, weil ich sonst nicht weiß, wohin mit meinen Bewegungen. Das einzig Stille in meinem Kopf ist das große Zahnrad. Das sitzt in der Kopfmitte. Es surrt nicht. Es dreht sich still – nein, drehen ist übertrieben, es bewegt sich weiter, bedächtig von einem Zahn zum nächsten. Aber unaufhaltsam! Und an ihm hängen andere Zahnräder. Kaskadenweise diese kleinen hin zu den kleinsten, aneinander gekoppelt mit wahnwitzigsten Übersetzungen, dass ein unmerklicher Bewegungshauch des Großen Rades ein Rasen in den Kleinen hinterlässt, dass es nur mehr Surrendes und Vibrierendes gibt, tausendfach, und eines treibt das andere und treibt hundert weitere, dass die Mechanik heiß wird und glüht vor lauter innerer Reibung. Aber das große Rad hört nicht auf. Es macht weiter mit einer Kraft, die unerbittlich ist, denn es ist die Zeit höchstpersönlich, die dieses Rad vorantreibt.

Und in der Fassung Nummer 5 von 2006 klang der Anfang so:

Bettina sitzt in ihrem Büro im Institut für Ur- und Frühgeschichte. Vor sich, auf ihrem Schreibtisch, stapeln sich Seminararbeiten über die Auswertung von Gräberfeldern. Jemand öffnet die Tür, ohne anzuklopfen. Bettina und schaut auf, bereit, den Hereinkommenden zurecht zu weisen. Es ist Keichlo.
„Was machst du hier?“, fragt sie. Groß ist er geworden, denkt sie. Fast stößt er oben an den Türrahmen.
„Und was machst du hier?“
Er kommt herüber, hebt ein korrigiertes Blatt hoch. Bettina hat Rechtschreibfehler rot markiert. „Immer noch die Perfektionistin, hm?“
„Lass mich arbeiten.“
Er lächelt. „Immer noch die Verbissene, hm?“
Sie schaut zu ihm hinauf. Wie alt ist er mittlerweile? Einundzwanzig? Seine Augen. Scharf umgrenzt von einer dunklen Linie, drinnen im Grün ein helles Geflecht. Bernsteinfarbene Flüsse, die einem schwarzen Zentrum zustreben. Sind seine Augen schon früher so gewesen?
„Gehen wir tanzen“, sagt er.
„Was soll ich?“
„Tanzen.“
„Weshalb soll ich mit dir tanzen?“
„Vielleicht, weil es Spaß macht?“
„Ich habe Spaß genug.“
„Ich sehe es.“
Ich sollte jetzt etwas Freches erwidern, denkt sie. Einen Atemzug später fällt ihr ein: „Stellst du dich immer noch auf Gleise und hältst Züge an?“
„Nein“, sagt er. „Ich mache nur mehr die ganz gefährlichen Sachen.“
„Und das wäre?“
„Mit dreißigjährigen Frauen tanzen gehen.“
„Klingt letal.“
Er hebt die Augenbrauen. „Freitag, zehn Uhr abends. Wir treffen uns vor dem Stephansdom und gehen dann ins La Cabaña.“
„Freitag habe ich sicher keine Zeit.“

… klingt so, als hätten diese drei Anfänge nichts miteinander zu tun, nicht wahr? Ist aber doch verwoben. Weil es darum geht, dass Keichlo (der Romanheld) mit Bettina Salsa tanzt. Natürlich hat sich die Handlung so verändert, dass der Anfang von 2006 nicht mehr passt – weil ich beschlossen habe, diesem Wieder-Treffen der beiden viel mehr Raum zu geben. Die Romanfassung von 2006 ist mir zu sparsam.

Hier zeigt es sich mir wieder einmal: Der Anfang ist das instabilste Stück Text am ganzen Roman. Aber für mich ist es wichtig, einen zu haben, ihn halbwegs zu haben, damit ich mit der richtigen Emotion/Schreibhaltung/Sprache losstarten kann.

Erfolglos schreiben: Starte mit einer umfassenden Idee

Halte dich nicht mit allzu Konkretem auf; Literatur der Hort großer Gedanken und Zusammenhänge, darum arbeite zuerst mit dem, was Romanpersonen für dich darstellen sollen.

Geh davon aus, dass sich das Konkrete dann von selbst ergibt.


F. Scott Fitzgerald
meint:

Begin with an individual and you find that you have created a type; begin with a type and you find that you have created — nothing.

Throw the whole Roman onto the Komposthauf’n – ‚cause it’s Frühling, baby!

Also: Es war einmal ein Autor. Der besuchte 2005 die Leondinger Akademie für Literatur. Jeder Teilnehmer arbeitete während des Studienjahrs an einem Romanprojekt, so auch besagter Autor. Nach fundamentaler Kritik gleich zu Beginn des Lehrgangs verwarf er die 4. Fassung. 2006 vollende die 5. Fassung, in Obhut von Gustav Ernst, aber so richtig wurde nichts daraus. Verlage konnten sich nicht erwärmen, und der Autor arbeitete lieber an etwas völlig Neuem…

Jetzt nehme ich das Projekt wieder auf. Gute Handlung, soweit ich mich erinnern kann. Durchgelesen habe ich den Roman nicht, weil: das lenkt doch nur ab, und ich versuche womöglich irgendwelche textlichen Darlings zu retten.

Ich habe also einen ganzen Roman. 447.662 Zeichen. So dick wie „Die Archäologin“. Und den werfe ich auf den Komposthaufen. Lasse ihn verrotten und beobachte den Klatschmohn, der grellrot aus dem nahrhaften Boden wächst.

Und warum? Weil es Frühling ist, verdammt noch mal! Da wachsen Dinge. So ist das.

Der Wind trägt ein Blatt fort, das verfängt sich an den Blüten eines bienensurrenden Marillenbaums, auf dem steht:

– Bettina steht rauchend beim Fenster. –

Sie werden mich einsperren. Sie werden meinen Bruder mit Handschellen abführen, und er wird sagen: gerne habe ich es getan, denn der Pfandler hat sich in Thailand an Kindern vergangen, und so etwas gehört gestoppt. Meine Mama wird weinen, und mein Papa wird gänzlich aufhören zu leben. Man wird mich verhören. Und was soll ich sagen? Was wissen die denn schon? Stellen Sie sich vor, Herr Polizist, Sie haben einen Bruder. Nur mehr einen, weil Sie den anderen getötet haben. Würden Sie den nicht behalten wollen, selbst wenn er nachts Päderasten erschlägt? Aber das können Sie nicht verstehen. Weil das nicht normal ist. Aber so bin ich nun einmal, nicht wahr, so sehe ich gar nicht aus, nicht wahr?

– Bettina beobachtet ihr Spiegelbild im Fenster, schemenhaft und durchsichtig. –

Sie wollen mit mir schlafen, Herr Polizist. Sie haben mich gesehen und sich gedacht, wie wird sie sich bewegen unter mir, jetzt sehen Sie in meinen Ausschnitt und stellen sich vor, wie Sie mit ihren Händen da hineingreifen, von hinten. Nicht wahr? Das ist normal. Aber mit Kindern, das ist nicht normal. Und ein Bruder, der das nicht erträgt, ist auch nicht normal. Darf ich rauchen, Herr Polizist?

– Bettina drückt die Zigarette an der Fensterscheibe aus, dort wo sich ihr Bauchnabel spiegelt.

Jeder sagt etwas Gegenteiliges. Über die Suche nach dem Romantitel.

Wärmend, wie viele liebe Leute auf meinen Blogeintrag zur Titelsuche reagiert haben, entweder per Posting, per E-Mail, telefonisch oder am Twitter…

Und was ist herausgekommen?

Hmm.

Die Meinungen sind unterschiedlich. Mehr noch, sie erscheinen unverträglich. Jeder Titelvorschlag hat glühende Anhänger und erbitterte Gegner. Sogar eineiige Zwillinge vertreten gegenteilige Meinungen (Meine Mutter und meine Tante haben mir – unabhängig voneinander – E-Mails geschickt – Danke übrigens).

Unverträgliche Meinungen sind gut. Sagt schon Oscar Wilde:

Meinungsverschiedenheit über ein Kunstwerk zeigt, dass das Werk neu, vielfältig und bedeutend ist. Wenn die Kritiker uneins sind, ist der Künstler einig mit sich selbst.

Es liegt also ganz alleine an mir und bei meinem Bauchgefühl.

Jetzt neu! Jetzt noch perfider! Der neue Romantitel.

GRAUKO-Treffen in Graz. Kuno Kosmos, einer der Erstleser meines Romans, schlug eine Änderung des Titels vor. „Violanum“ war ihm zu Thriller-artig. Seine Alternative:

Viola auf dem Steine

Das klingt weicher und trägt etwas Bedächtigkeit in sich. Der Titel ist zudem recht perfid: verspricht er eine Frau, die sitzt und vielleicht Gedanken nachgeht. Tatsächlich fußt er auf folgendem Stephanbrief

27. Stephanbrief »Viola auf dem Steine«

Viola wurde zu einer Magd geführt.
Die lag in einem Stall und blutete aus dem Leib.
Die Stirne heiß, die Stimme erschlafft,
der Blick schon trübe.
Viola setzte sich neben die Frau auf einen Stein,
labte die Magd mit Wasser und Kräutern
und stellte ihr die Kerze in die Hände.
Der Priester nahm die Beichte ab.
Die Kerze war noch nicht erloschen,
da öffnete die Frau die Augen,
erblickte Viola auf dem Steine und rief:
»Hier darfst du nicht sitzen, denn mit diesem Stein
habe ich mir mein Kind im Leib erdrückt.«

Als es vorbei war, schleppte Viola den Stein
hin auf den großen Platz und sprach:

Nie tötet eine Frau ihr Kind aus freien Stücken.
Denn es ist der Teufel, der uns Netze auslegt,
in die wir fallen und uns nicht mehr zurechtfinden,
und uns nicht mehr um die Liebe kümmern.
Deshalb nehmen wir fortan alle Kinder als die unseren auf,
die an uns herangetragen werden.
Wir fragen weder nach Namen noch nach Grund.
Jede Frau, die hier gebären will, sei uns willkommen,
egal, ob sie das Kind behalten kann oder in unserer Obhut lässt.

Denn unsere heilige Aufgabe sind die Kinder –
die müssen wir aus den Netzen des Teufels lösen.
Über die Sünden ihrer Mütter und Väter zu richten,
obliegt alleine unserem Herren.

Denn mit jedem Satz, da verbrennt doch etwas!

Ich mache weiter mit dem Schreiben, nach zwei Monaten Pause, wie ein Verirrter, der geglaubt hat, er bräuchte keinen Kompass mehr, und nun ist er zurückgekrochen, an die Stelle, wo er das Ding leichtfertig fort geworfen hatte.

Ich tippe das hier, und wie eine Horde kreischender Affen tanzt es in meinem Kopf. Natürlich kann ich nicht mehr schreiben wie vor zwei Monaten – Schreiben ganz allgemein bedeutet, nie mehr so schreiben zu können wie vorhin, denn mit jedem Satz, da verbrennt doch etwas! Aber seine Asche ist so fruchtbar, dass auf ihr der kommende Satz spießt. So kann ich unmöglich meine Worte an Bettina richten, nach allem, was nun passiert ist. Das heißt nicht, dass sie für mich tot ist, sondern dass sich Dinge eben geändert haben.

(Dies ist ein weiteres Opfer für den Schreibgott, denn auch für dieses Textstück sehe ich keine Verwendung mehr im Roman.)

Aufspüren und ausmerzen. Den Fülselworten geht es ans Leder.

33 Mal ist das Wort „irgendwie“ im Roman vorgekommen.
Jetzt kommt es nur mehr dreimal vor.

201 Mal ist „immer“ vorgekommen.
Jetzt: 71.

19 Mal ist „nämlich“ vorgekommen.
Jetzt: 2.

92 Mal ist „sagte er“ vorgekommen.
Jetzt: 72.

144 Mal ist „er sagte“ vorgekommen.
Jetzt: 137.

132 Mal ist „ich sagte“ vorgekommen.
Jetzt: 101.

229 Mal ist „sagte ich“ vorgekommen.
Jetzt: 114.

90 Mal ist „fragte ich“ vorgekommen.
Jetzt: 52.