Innere Rettung / Äußere Rettung

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

(Friedrich Nietzsche)

Das bedeutet für mich Literaten: Was ich erschaffe, an äußerer Handlung, an Personen, an Katastrophen und an Schönem, das ist Abbild von mir. Das bin ich. Ich entkomme mir nie.

Das bedeutet für mein Romanprojekt: Mein Protagonist Timon erlebt Abgründe einer Gesellschaft, der er nicht angehört. Eigentlich hat er mit alledem nichts zu tun.

Was Timon rettet, ist: er erkennt, dass diese Abgründe ein Spiegel sind. Die Abgründe spiegeln Timon. Genau darin liegt die Rettung: Wenn/weil Timon seinen eigenen, inneren Abgrund bewältigt, bewältigt er gleichzeitig den äußeren. Er ist innerer Retter und wird damit zum äußeren Retter.

(Danke, Denise, für den Hinweis auf dieses Zitat)

3. Stephanbrief – Die Begegnung

(Dieser Stephanbrief zeigt Stephans die erste Begegnung mit Viola und somit den ersten seiner vergeblichen Versuche, ihrer habhaft zu werden. Er nennt sich in diesem Brief nicht mit seinem Namen, er tritt bloß als namenloser, skrupelloser Obrist auf – Stephan auf Distanz zu seinem früheren Ich.)

Von dem Dorf will ich berichten, das im Jahre des Herren
1635 zur Weihnacht einen Kaiserlichen Obristen aufnahm.

Katholisch war das Dorf, allesamt und immerzu,
hat nie mit Schweden paktiert oder Protestanten zugehört,
Von Vieh und Acker lebte das Bauernvolk,
hatte öfters in diesem Kriege schon die Kaiserlichen zu Gaste.
In diesem Dorf lebte Viola mit Ihren Kindern.

Sechs Kinder hatte Viola,
die ältesten drei waren Ihre leiblichen Töchter
die anderen waren Ihr als Waisen zugegangen.

Den Obristen trug man auf einer Bahre ins Dorf,
zu krank zum Reiten war er schon.
Seine Dienerschaft war kaum zu begnügen,
begehrte alles mit Gewalt und bezahlte mit Grobheit.
Mit dem Obristen kamen seine Offiziere,
allesamt ansehnliche und prächtig gekleidete Leute.
Und mit ihnen die Soldaten, 1500 an der Zahl.

Wen diese auf dem Weg und Feld antrafen, dem nahmen sie Kleider,
Schuhe und Strümpfe und ließen ihn auf Schnee und Eis hinlaufen.
Sie aßen Hunde und Katzen und gestohlenes Fleisch,
suchten in den Gärten Kraut, Salatstengel, Wurzen, Kräuter zusammen,
sie ließen die Bauern ihr Getreide zur Mühle bringen
und nahmen ihnen Brot und Mehl hernach ab.
Sie brachen in die Kirche, stiegen unter das Dach,
und nahmen das Getreide, den Samen für das Frühjahr.

Sogar den Kaiserlichen Lieferanten der Soldaten
wurden die Viktualien im Hergang oder das Geld im Hingang
oft mit Gewalt geraubt, und darum blieben sie aus,
so dass am Ende auch die Offiziere Hunger empfanden.
Über dieses war der Obrist so aufgebracht,
dass er vom Dorf Ersatz verlangte,
mit Brot und Vieh und Sachen, von denen er wusste,
dass das Dorf sie nicht hat weder haben konnte –
Honig, Öl, Eier, Kerzen, da die Soldaten selbst nebst dem Unschlitt
auch die Wachskerzen vom Gotteshaus schon verzehrt hatten!

Da klagten die Bauern bei dem Obristen
über die Pressungen und die Feindseligkeiten
und wegen der gefährlichen Feuer
sowohl in den Öfen als auch offen in den Gassen.
Der Obrist war dadurch aufgebracht und befahl,
von nun an alle Tage ihm weißes Semmelbrot,
Fleisch und Gemüse auf die Tafel zu liefern.
Er sprach: Die Güter der Bauern gehören den Soldaten
so gut als den Bauern selbst!
Also haben sie das Recht, davon zu leben.
Mit diesem Recht forderte er alle Milch und Butter von allen Kühen.

Die Bauern wollten mit Gewalt widerstehen,
und es kam so weit, dass zwei Soldaten verwundet wurden.
Ein Offizier sah das Gemenge und ließ einen Bauern binden
und Viola, die sich dazwischen warf, gleichmit.

Die Bauern gingen zum Obristen, erflehten kniend Gnade.
Sie wurden nicht vorgelassen. Er ließ ausrichten,
dass er seinen Soldaten den Befehl erteilen werde,
alle Männer, Weiber und Kinder zu morden
und das Dorf und Kirche mit Feuer und Schwert ganz zu verheeren.
Gab den Befehl, dass sich die Gefangenen
durch Beichte zum Tod durch den Strick bereiten sollen.

Der Obrist befahl, Viola zu ihm zu bringen,
und so führte man sie durch das Dorf
vorbei an zwei Soldaten, die in dieser Nacht verhungerten,
die vor dem Tode noch ihre Arme angebissen
und ihre Finger abgenagt.
Viola kniete sich zu den Leichnamen nieder,
ließ sich auch nicht fortzerren,
ehe sie fertig war mit dem Weinen und Beten für die beiden,
als wären es Kinder Ihres Dorfs.

Als Viola an das Krankenlager des Obristen trat,
fragte er sie, ob sie ihm einen Grund geben könne, sie zu verschonen.
Viola griff nach seiner Hand, berührte seine Stirn und sprach:
Wenn ihr mich nicht heute hängt, werdet ihr vor mir sterben.
Er sagte: »Wenn Ihr mich heilt, begnadige ich euch.«
Viola sprach: »Eure Gnade ist großzügig,
doch bitt‘ ich euch, gewährt sie jenen, die sie nötig haben.«
Er fragte: »Kannst du mich heilen?«
Sie sprach: »Zu pflegen vermag ich euch,
doch gesunden kann euch nur Gott.«

Als der Obrist dem Fieber doch entrann,
fasste er Violas Hand und steckte Ihr einen Ring an.
Sie bedankte sich, und am nächsten Tag war der Ring fort.
Der Obrist fragte, ob sie bestohlen – hängen wollte er den Dieb!
Viola sprach: „Euer Ring ist gut aufgehoben.“
Sie hatte den Ring verpfändet, mit dem Erlös
zwei arme Kinder eingekleidet und mit Decken versorgt.
Viola sprach: »Der Ring ist nun Euer Schatz im Himmel.
Der Ring liegt vor unserem Herren Jesus Christus und bittet für Euch.«

Trustinus, Gott des Selbstvertrauens

Auf dieser Skulptur aus dem 18. Jahrhundert lehnt er lässig an den Trophäen seiner Schreibkunst. Trustinus ist keiner, der sich wegen einer Schreibkrise Sorgen macht. Emotionale Tiefs steckt er weg, weil ihn die Überzeugung trägt, dass ihn die rechten Einfälle zur rechten Zeit ereilen würden. Er quält sich nicht mit literarischer Arbeit – und doch ist er stets bereit, viel zu schreiben, wenn der Fluss einsetzt. Er spricht nicht davon, Talent zu haben, Neid ist ihm fremd – er freut sich mit den Erfolgen seiner Kolleginnen und Kollegen.

Skype und die Geburt eines Romans

Letztens war GRAUKO-Treffen. Ich war dabei, per skype. Von meinem Schreibtisch aus. Mit dem Video ist es so, als wäre ich bei den Kolleginnen und Kollegen.

Und so wurde ich von Wien aus Zeuge bei der Geburt eines neuen Romans, den uns Isolde vorgestellt hat. Beeindruckendes Konzept, das genau auf sie passt. Ich war beeindruckt.

Neue Lage: 556.035 Zeichen inklusive Leerzeichen

Gestern den letzten großen inhaltlichen Brocken der ersten Romanhälfte geschrieben (oder war es der vorletzte oder der vorvorletzte?). Bis Weihnachten will ich im Rohwurf fertig sein, danach 2 Wochen Arbeitsurlaub, um alles zu überarbeiten, die gröbsten Fehler auszumerzen. Und Schreibgott Xo drüber zu lassen.

Ich werde öfters gefragt, wie ich darauf komme, dass es die Hälfte ist. Meine Antwort: Ich denk’s mir halt. Weil ich mit dem Roman 2011 fertig sein will, würde es gut passen. Denn das, was ich per heute an Text habe, habe ich im Mai 2010 zu tippen begonnen (Siehe meine letzte große Schreibkrise).

Und woher weiß ich, dass das bisher Geschriebene nicht bloß das erste Romandrittel ist? Guter Punkt. Vom Gefühl her bin ich nämlich erst im ersten Drittel von Aristotels‘ Dramaturgie (nachzulesen etwa in 20 Masterplots):

  1. Anfang (Setup) – Die Situation wird dargestellt.
  2. Mitte (Rising of the action) – Jetzt ringen die Romanpersonen um ihre Ziele. Es gibt Konflikte.
  3. Ende (Climax, falling and denouement) – Es kommt zum Höhepunkt und danach zur Lösung, zur Erneuerung.

Ich denke, meine zweite Romanhälfte umfasst die letzten beiden Drittel. 600.000 Zeichen sollten bitteschön doch dafür reichen, schließlich umfasste Die Archäologin ja auch nicht mehr als 500.000 Zeichen und war ein ausgewachsener Roman.

Max Frisch über die Motivation zu schreiben

Der von Frisch entworfene 10-Meter-Sprungturm am Sportbecken des Freibads Letzigraben.
Der von Frisch entworfene 10-Meter-Sprungturm am Sportbecken des Freibads Letzigraben.

Weil es schwer ist, das Leben auszuhalten, ohne sich auszudrücken.

Man will nicht alleine sein: Man will wissen, ob es anderen Menschen ähnlich geht, gegenüber Zeitfragen, Zeitproblemen.

Aber vielleicht am Anfang steht eine ganz naive Lust etwas zu machen, zu spielen.

2. Stephanbrief – Die Prüfung

Ihr kommt zu mir und bittet mich um Worte,
damit ihr Viola versteht.
Ich aber jage euch hinfort,
zu den Kranken, zu den Armen,
in die Küchen, in die Werkstätten,
zur Arbeit auf dem Felde und in den Häusern.
Und sollte sich jemand erdreisten und sagen:
„Ich verstehe Viola, und ich kann sie mit Worten erklären“,
den werde ich aus der Stadt treiben, mit Peitsche und Pike.

Denn nicht mit dem Verstande ist sie zu verstehen,
nur sondern durch eure Taten
wenn ihr dem Blinden den Brei hinstellt
und seine Hände an die Schüssel legt,
damit er selbst essen kann,
wenn ihr in die Krankensäle geht,
zu den brandigen und den Alten, und sie wascht,
wenn ihr ans Ufer geht, an jene Stelle,
wo das Plätschern die Vogelgesänge übertönt,
wenn ihr nichts besseres esst als das, was ihr den Ärmsten reicht.

Ihr kommt zu mir und bittet mich um Leitung.
Ihr fragt mich, was nun werden soll, solange Viola fort ist.
Aber ich werde euch nicht leiten, denn:
Viola ist diejenige, die euch leitet, immerzu.
Darum fragt nicht mich, fragt euch:
was würde Viola an eurer statt tun?

Geht Ihren Weg – weicht niemals ab!
Stellt euch den Zweifelnden, die euch angreifen und sagen:
»Wer ist Viola? Ein Weib ist sie! Wer hört schon auf ein Weib?«
Ihr habt es einfach! Ihr braucht nur Violas Weg zu folgen.
Denn ihr seid geleitet.
Aber Viola war von keinem Menschen geleitet,
sondern von Jesus unseren Herren.
Ihr Weg war euch der erste. Eure Wege sind die zweiten.

Ihr kommt zu mir und sagt, dass ihr Hunger habt.
Ihr zeigt mir, wo ihr blutet, ihr zählt auf, was ihr verloren,
Ihr bittet, ich möge euch schonen,
weil eure Kinder tot sind und ihr nicht mehr könnt.

Ich aber rufe euch zu: Ihr atmet doch noch!
Und wer atmet, der kann die Leichen von den Gassen sammeln
der kann Stein auf Stein schlichten
kann die Breschen in der Stadtmauer flicken
kann aus Baumstämmen Gebälk zimmern
kann den Verletzten die Kugeln aus dem Leib schneiden
und die Alten und die Kinder waschen und die Felder bestellen
kann die Kühe melken und den Waisen das Lesen lehren.
Die Waisen! Vergesst niemals die Kinder,
damit sie wissen, was zu tun ist,
wenn der Krieg wiederkommt.

Denn die einen sind stark durch Kanonen,
die andern stark durch Rosse,
wir sind stark durch den Namen Violas.
Die anderen sind gestürzt und gefallen,
wir aber bleiben aufrecht und stehen.

Dies hier sei eure Prüfung.
Merket, dass nichts von dem, was ihr durchlebt,
dem gleicht, was Viola ertragen hat.
Denn sie hatte keine Leiterin so wie ihr.
Alles an Ihr musste aus Ihr heraus sein.
Ihre Kraft nicht nur für sie selbst, sondern für euch alle.
Ihr, die mir eure Leiden und eure Müdigkeit schildert,
ihr müsst doch nur für euch sein,
nur tun, was getan sein muss!
Darum geht hinaus und arbeitet und danket dem Herren
Damit ihr Viola aufrecht ins Antlitz sehen könnt,
auf dass Ihr Lächeln euch den Tag krönt.
Denn Viola spürt, wer ohne Fehl ist.
Sie braucht keine Worte, um euren Weg zu erkennen.
Und so braucht auch ihr keine Worte,
wenn euer Weg der von Viola ist.

Darum: Steht auf! Schwätzt nicht!
Und wenn ihr spürt, dass sie neben euch einher geht,
dann wisst ihr, dass ihr dem rechten Weg folgt.

1. Stephanbrief – Der Eröffnende

Im Namen unseres Herrn Jesus Christus
und unserer Fürsprecherin, der Unbefleckten Jungfrau Maria.
Gott werde allen Dingen dieser Welt vorgezogen. Amen, Jesus.
Im Namen Violas, der Rechtschaffenen und Barmherzigen,
der Helferin und Vorauseilenden.

Ich, Stephan Stürckgh, vom Herren beschenkt und vom Herren geprüft,
richte mich auf und werde Zeugnis ablegen über Viola.
Ihrem Willen folgt ihr, Ihr Werk führt ihr fort,
Ihrem Wort seid ihr getreulich, Ihre Taten sind euch zum Vorbild.
So werden Ihre Worte und Ihre Taten eure Seelen stärken
und ihr werdet bereit sein für die Zeit Ihrer Rückkehr.

Ich mache die Stephanbriefe öffentlich

Stephan Stürckgh war Obrist im 30jährigen Krieg, war ein Mörder Wallensteins und kam durch den Krieg zu enormem Reichtum. Dann lernte er Viola kennen und lieben.

Für sie gründete er das Hospital „Violanum“. Für sie stiftete er seinen gesamten Reichtum – die Violastiftung finanziert das Violanum zum heutigen Tag.

Als Viola in den Kriegswirren 1645 verschellte, schrieb er die Stephanbriefe. Sie sind sein Vermächtnis. Jahrhundertelang haben sie die Gesellschaft rund um das Violanum geprägt und sind auch heute noch Anlass für Menschenliebe und Mord.

Die massiven Auswirkungen der Stephanbriefe sind Hauptthema meines Romans. (Hier bekommt ihr Einblick in das Projekt). Ich werde nicht alle 114 Stephanbriefe veröffentlichen, sondern bloß jene, die ich im Roman zitiere.

Schreibtheologische Frage #3: Welcher ist der Gott des Schreibkampfs?

Danke, Christina, für diese Frage. Die Antwort lautet:

Es gibt keinen. Vielmehr ist es ist der Widerstreit der Götter, mit anderen und mit sich selbst – sprich, es ist der Olymp in seiner Gesamtheit.

Wer monotheistisch denkt, ist verleitet, in Maniacus, Gott der Getriebenen, seinen einzigen Gott des Schreibkampfes erblicken. Aber Vorsicht, Monotheismus ist eine sehr gefährliche Sache.

Struktura, Göttin des Plots

Struktura schafft die Festigkeit, die große Werke benötigen. Sie steht im ewigen Widerstreit mit Inceptus, dem Gott der Anfänge. Sie meint, Inceptus solle doch die Kapitel planen, einen Plot und seine Figuren skizzieren. Inceptus verabscheut ihre Besserwisserei und meint, Planung verdirbt die spontane Inspiration.

Struktura wird niemals alleinstehend dargestellt, sonder stets als Teil des Handlungsgerüsts (siehe diese Darstellung aus dem 18. Jahrhundert). Damit wird gezeigt, dass nicht nur die handelnden Personen, sondern auch der Autor Teil seines Romanwerks ist.

Inceptus wirft Struktura vor, sich selbst Gefangene zu sein und preist die literarische Freiheit als höchstes Gut des Künstlers. Worauf Struktura anmerkt, Inceptus habe niemals einen Roman zuwege gebracht.