Gut, wenn ich nicht nachdenke

Das menschliche Denken, Mitte 17. Jh, Kupferstich, Sudhoff-Institut Leipzig, Foto: Kustodie/Karin Kranich

Ich schreibe und habe eigentlich keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich da genau schreibe.

Ja, Christina. So in etwa ist auch mein Weg. Sobald ich im Nicht-Nachdenken bin, rennt es. Sobald ich nachdenke, stockt es. Für mich ist Denken der Antipode von Fühlen.

(Wobei es natürlich wichtig ist, die Strukturen herbeizudenken, mein Roman verlangt das von mir ab, aber ich verfange mich allzu oft in das unnötige Denken.)

Mittendrin zu schreiben beginnen

Freitag – 4 volle Schreibtage liegen vor mir! … Gehe meinen Roman durch, was ist noch offen? … Mein Protagonist hat eine Mutter, über die muss ich noch schreiben, ich will aber nicht … ich denke, ich gehe auf und ab … Resultat: 0 Zeichen.

Samstag – Okay, den ersten Schreibtag hab ich zum Pausemachen nutzen müssen. Aber jetzt! Jetzt bin ich müde, Party bis drei gehabt. Aber ich hab ja Zeit, erst um sieben ist Tanzkurs. Resultat: 0 Zeichen.

(Nachtrag zum Samstag: Um 22:00 eine neue Textdatei aufgemacht. Bloß zum Skizzieren. Bis 02:00 darüber geschrieben, dass sich die Mutter ankündigt und dass mein Timon über sie reflektiert. 5000 Zeichen)

Sonntag – Will nicht über die Mutter Timons schreiben. Ich schreibe lieber über das, was Timon schnell noch tut, bevor seine Mutter kommt.
6000 Zeichen.

Montag – Will Mutters Besuch nur kurz beschreiben. So wenig Zeichen wie möglich. Am Ende sind es weitere 6000 Zeichen.

Das ist ein Schnitt von 4250 Zeichen auf 4 Tage. Das ist verdammt gut. Es gab Zeiten, da war ich froh, am Tag 2500 geschafft zu haben. Klar werde ich die Texte noch überarbeiten – aber wie heißt es doch so schön: wer etwas kürzen will, muss vorher was geschrieben haben.

Und das lerne ich daraus? Mittendrin in irgendeiner Szene zu skizzieren beginnen.

Promisia, Göttin der geförderten Jungautorinnen

Sie wird dem literarischen Umkreis von Seriousus zugerechnet, wo ihre poetischen Einwürfe stets als Vorbote irgendeines großen, kommenden Werks gesehen werden. Die leere Schüssel, mit der sie dargestellt wird, symbolisiert einerseits die finanzielle Förderungswürdigkeit, andererseits die literarische Fähigkeit, dem Nichts eine Form zu geben, die Inhalt verspricht.

Promisia tritt in einer Vielzahl von Gestalten auf, siehe FAZ Hochschulanzeiger Nr. 83, 2006:

Sie lässt sich Agnes oder Felicitas rufen und veröffentlicht unter diesem Namen auch ihren ersten Kurzgeschichtenband, der einen schlichten Titel wie „Licht“ oder „Mutter“ trägt und in dem Menschen in winterlichen Altbauwohnungen rauchend Sex haben und trotzdem nicht ineinander verliebt sind, sondern „irgendwie auf der Suche“. Wird sie in Interviews auf das Thema Sex angesprochen, reagiert sie genervt ob dieser ewigen Reduktion. Kommt das Thema nicht zur Sprache, fängt sie von selbst an, davon zu berichten, wie autobiographisch die Sexszenen in ihrem Buch sind – und ja, sie habe auch schon gleichgeschlechtliche Erfahrungen gemacht, das fände sie schon reizvoll, aber nicht aus Modegründen natürlich.

(Promisia bitte keinesfalls mit Lyrelda zu verwechseln, der Göttin der Selbständigkeit, die ebenfalls dem Umkreis von Seriousus entsprungen ist.)

Lyrelda, Göttin der Selbständigkeit

Lyrelda im Widerstreit mit dem Lehrer, dem sie alles bisherige zu verdanken hat: Sie wehrt die Hand ab, die ihr vorhin noch Hilfe und Stütze war. Das ist ihr Wachstum.

Die Sage von Lyelda handelt vom Loslösen, vom künstlerischen Reifen. Seriousus, ihr Lehrer, wird – eben weil er es gut mit ihr meint – zum größten Hinderer. Er will Lyrelda vor Fehlern bewahren – aber Neues kann nur dann entstehen, wenn es radikal ist. Wenn Lyrelda keine Rücksichten mehr nimmt, nicht auf sich selbst, nicht auf ihren Lehrer.

Ich schreibe wie Friederike Mayröcker. Früher schrieb ich wie Friedrich Nietzsche.

Friederike Mayröcker

Ein komplizierter Algorithmus vergleicht ein Textbeispiel von Ihnen mit den Schreibstilen berühmter deutscher Schriftsteller. Aber Vorsicht, das System gilt als praktisch unfehlbar. Probieren Sie es aus.

Ich hatte die Analysemaschine mit dem Beginn meines aktuellen Romanprojekts gefüttert. Und nun wollte ich natürlich herausfinden, aus welcher literarischen Richtung ich mich weiterentwickelt hatte. Darum fütterte ich die Maschine mit dem Beginn von „Die Archäologin“ und bekam folgendes Resultat:

Friedrich Nietzsche

(Danke dem Texthobel für den herrlichen Hinweis!)

Shakespeare hat doch nie ein Buch geschrieben, oder hab ich da was verpasst?

Eine facebook-Diskussion auf meiner Pinnwand, vor ein paar Tagen.

Thomas Wollinger: Soeben las ich auf der Webseite einer Autorin: “Ich kann kein Buch wie Shakespeare schreiben, aber ich kann mein eigenes schreiben.” – Shakespeare hat doch nie ein Buch geschrieben, oder hab ich da was verpasst?

A: Bist Du pingelig!

B: Wann schreibt man denn „ein Buch“?

Thomas Wollinger: Ein Buch ist für mich ein Werk, das primär dazu geschaffen ist, gelesen zu werden. Ein Drama/Drehbuch ist für mich ein Werk, das primär dazu geschaffen ist, aufgeführt zu werden.

B: Klingt plausibel … Im landläufigen Sprachgebrauch ist ein Buch öfter aber das zusammengefasste Papierbündel, das einen Text enthält (egal für welchen Zweck). Dreh-Buch hast du eh selbst genannt, Gesang-Buch ein anderes Beispiel. Beim Hör-Buch endet aber auch meine Definition ;-)

C: ist ein reclam heftl ein buch?

B: :-)

D: Also meinem Germanistenherz tut „Buch“ in Kombination mit „Shakespeare“ weh ;o)

Thomas Wollinger: Was lerne ich daraus? Die Menschheit hat das Thema „Literaturgattungen“ noch immer nicht erschöpfend behandelt, ist ein weites Feld, sozusagen :-)

E: Der liebe Herr Shakespeare (wer auch immer das war) hat mit Sicherheit kein Buch geschrieben. Er war ja nicht einmal am First Folio beteiligt, weil er schon davor die Feder abgegeben hatte. Nicht einmal ein Blättlein seiner Schriften ist überliefert, das haben ja dann die Kollegen zusammengesammelt und aus dem Gedächtnis reproduziert. Die liebe AutorIn wird ergo wirklich niemals ein Buch wie Shakespeare schreiben können. Sie sollte sich wirklich auf Ihr eigenes konzentrieren. :))))))

Seriousus, Gott der alternden Literaten

Seriousus ist Gott der Autoren, die ihren Schaffenszenit hinter sich gelassen haben. Ihnen ist ihr Ruf wichtig, den sie mit allem verteidigen, außer mit literarischen Werken.

Seriousus umgibt sich mit Gefährten, die stets in dasselbe Horn stoßen und seiner Literaturkritik hörig sind (in obiger Skulpturengruppe rechts).

Lyrelda, Schutzpatronin der jungen Poetinnen, hat Hand an den Oberschenkel von Seriousus gelegt, während er über „Emotion in der Literatur“ doziert (links).

Der Sage nach vollendete Lyrelda entgegen dem Ratschlag Seriousus ihren Roman. Daraufhin verwarf er sich mit ihr und spendete seine Nähe fortan anderen Poetinnen (etwa der blutjungen Analia). Als es Lyrelda gelang, mit ihrem Werk in den Olymp aufzusteigen, durfte niemand im Umkreis Seriousus ihren Namen auch nur erwähnen.

„Schau, Timon. Du bist noch jung, du bist gesund.“

Dieser Text ist gestern entstanden; ich stelle ihn online, um zu zeigen, wie ich im Roman den Roman anspreche. (Timons Mutter besucht ihren Sohn in jener Ortschaft, wo seine Freundin umgekommen ist.)

»Schau, Timon. Du bist jung, du bist gesund. Du hast einen Beruf, du hast etwas gelernt. Bei dir ist noch alles möglich. Du brauchst nicht mehr traurig sein.« Ich hätte gerne gesagt: Mutter, das verstehst du nicht, ich habe Dinge gesehen. Aber ich habe keine Dinge gesehen. Es fühlt sich bloß so an. Wenn ich all diese Dinge aufschriebe, die ich nicht gesehen habe, aber von denen ich spüre, dass sie da sind, um mich, seit Jahrhunderten, in den Leuten, hier in Friedstatt – was müsste das für ein Roman werden? Eine faustdicke Handschrift vielleicht, mit schweren Seiten aus dickem Pergament. Oder es würde wie ein Bild werden, mit leuchtender Ölfarbe auf die Leinwand gespachtelt. Oder wie mit aller Wucht auf Trommeln geschlagen. Oder wie ein Feuerwerk mit Erschütterungen, die selbst dort zu spüren sind, wo das nächtliche Aufblitzen nicht mehr hinkommt. Mir fällt jetzt kein griffiger Vergleich ein, und mir ist keiner eingefallen, als ich neben Mutter zum Südtor gegangen bin. Dort fragte sie mich: »Ist es da drinnen passiert?«
Ich nickte.
»Du wirst wieder eine Frau finden«, sagte sie.
»Du solltest dich rasieren«, sagte sie.

Eine neue Literaturgattung? “Kindle Single”

Oft erlebe ich in meinem literarischen Umfeld, dass Texte entstehen, die zu kurz sind, um als Roman zu gelten, und doch mehr sind als eine Kurzgeschichte.

Solche Texte sind heimatlos in der Welt der Literaturstandards. Vielleicht hat amazon nun dafür eine passende Literaturgattung geschaffen…

„Kindle Singles“: Digitale Plattform für Novellisten

Alles, was für Magazine zu lang und für Bücher zu kurz ist, erscheint als „Kindle Single“

Autoren von Essays, Kurzgeschichten oder anderer relativ kurzer Textformen haben es oft schwer, für ihre Werke eine publizistische Plattform zu finden. Für Magazine zu lang, für Bücher zu kurz – so muss mancher Text in der Schublade bleiben oder verliert, auf Buchlänge aufgeblasen, seine Prägnanz, nur weil er nicht in traditionelle Printformen passt. Für solche Arbeiten empfehlen sich E-Books, denen die Länge eines Textes egal ist. Amazon bietet dafür jetzt eine eigene elektronische Plattform an: Kindle Singles.

Keine künstlichen Textlängen

Der Titel, im Zeitalter von Online-Datingsites etwas unglücklich gewählt, spielt auf die „Singles“ des Schallplattenzeitalters an: Alles, was etwa 30 bis 90 „gedruckte“ Seiten hat, fällt für Amazon in diese Rubrik. Im Kindle Store soll es dafür eine eigene Abteilung geben, und ohne es dazu zu sagen rechnet Amazon wohl damit, dass die Autoren selbst Werbung für ihre Werke machen.

„Ideen und die Worte, um sie vorzutragen, sollten ihrer natürlichen Länge entsprechen und nicht einer künstlichen, die aus Marketinggründen für nötig gehalten wird, um einen bestimmten Preis zu rechtfertigen“, erklärte Russ Grandinetti, Amazons Kindle-„Verlagschef“. Für Amazon ist Singles ein einfacher Schritt, da es bereits seit längerem Autoren die Möglichkeit zum Eigenverlag auf seiner „Digital Text Platform“ anbietet – elektronisches Manuskript an Amazon schicken, Preis festlegen, fertig.

Zu welchem Preis Singles verkauft werden sollen, ist bisher unbekannt, und es gibt auch noch keine Angebote in einer künftigen Single-Abteilung. Mit seiner Ankündigung wendet sich Amazon zunächst an Autoren, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen.

Für unbekannte Autoren

Zwar werden Verlage nicht ausgeschlossen, auch diese können kürzere Texte als übliche Buchlängen als Singles veröffentlichen, für die sie bisher wahrscheinlich keine Verwendung hatten. Aber Singles gibt vor allem neuen und noch unbekannten Autoren eine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, und dazu nicht auf einen Verlag angewiesen zu sein.

Amazon setzt damit einen weiteren Schritt um sich vom reinen Buchhändler zum Verleger zu entwickeln. Einzelne Bestseller-Autoren haben bereits für die Digitalausgabe ihrer Werke den direkten Weg zu Amazon gewählt. Jetzt folgt mit Singles ein Bereich, der großteils wohl nie das Licht der Druckerpresse erblickt hätte, der direkt von Amazon verlegt wird – wobei sich der Onlinekonzern klassische Verlagsaufgaben wie Lektorat ganz, die Bewerbung der Werke teilweise erspart. (Helmut Spudich/ DER STANDARD Printausgabe, 15. Oktober 2010)

Über das Verschellen

Es gibt Worte, die fehlen mir. Etwa: Viola, die mystische Gründerin des alten Krankenhauses ist verschollen. Soweit so gut. Und ich mache mir natürlich Gedanken, wie das passiert ist. Wie was passiert ist? Na, ihr Ver-… äh, wie war doch gleich die Nennform zu „verschollen“?

Zum Glück hat Peter Heissenberger, Mathematiker, sich des Themas angenommen. In rätselhaft + wunderbar – Eine literarische Reise in die Welt der Zahlen postuliert er den Satz vom Verschellen: „Es kann nichts verschollen sein, ohne vorher zu verschellen.“

Heissenberger führt das 5-Phasen-Modell des Verschellens ein:

1. Phase: Gesicherte Existenz
2. Phase: Verschwinden
3. Phase: Verschwunden sein
4. Phase: Aktives Verschellen
5. Phase: Verschollen sein.

… um zu dem Schluss zu kommen, dass das Wort „verschellen“ verschollen ist (Phase 5), somit also sehr wohl existiert (siehe Phase 1).

Danke, Peter.

Xo, Gott des Kürzens

Xo war ein Adler.

Als Bestrafung für die Zeitverschwendung, die Zeus beim Durchlesen von Prometheus‘ Romanmanuskript erlitten hatte, wurde Prometheus angekettet. Er musste zusehen, wie Xo aus seinem Roman all die goldenen Worte herauspickte, an denen Prometheus so sehr hing. Alle drei Monate musste Prometheus eine neue Fassung des Roman schreiben, und immer wieder kam Xo und riss ihm die Worte heraus. Da es damals noch keinen Eigenverlag gab, ging die Tortur so lange weiter, bis Prometheus das Schreiben aufgab und den Göttern das Feuer stahl, um sein Werk zu verbrennen (Wegen dieses Diebstahls bekam er wieder Probleme, aber das ist eine andere Sage).