
Das ist die Uhr, zu der ich oft (wie oft denn?) hinaufsehe.
Sie sagt mir, wie es um den verbleibenden Schreibtag bestellt ist.
Und manchmal auch, wie lange es noch zum Sonnenaufgang ist.
Das ist die Uhr, zu der ich oft (wie oft denn?) hinaufsehe.
Sie sagt mir, wie es um den verbleibenden Schreibtag bestellt ist.
Und manchmal auch, wie lange es noch zum Sonnenaufgang ist.
Und ich dachte, „Kronstein“, das geografische Zentrum meines Romans, sei meine Erfindung… nun, Anni Bürkl hat mich eines besseren belehrt, danke! Da werde ich mir nun anderen Namen überlegen müssen, Schad, hab mich schon an ihn gewöhnt. :-)
Das kommt davon, dass ich nicht gut recherchiert habe…
Hab mich nun für „Friedstatt“ entschieden. (In Anlehnung an Wallensteins Friedland – schließlich wurde das Krankenhaus in meinem Roman 1637 von einem Offizier und Mörder Wallensteins gestiftet, finanziert aus dem Vermögen des Ermordeten.)
Was ich nun erzähle, gehört um Geisterhaftesten, das mir bislang beim Schreiben begegnet ist.
Ich schrieb eine Szene, in der Timon von Kronstein nach Wien mit dem Zug fährt. Eine Reise, die mit Unruhe begann (er wachte auf, und es trieb ihn zum Bahnhof) und die in Timons Wohnung in Wien endete. Eine intensive Reise, die kaum Äußerlichkeiten zu bieten hatte, aber dafür verschwamm in Timon die Realität mit dem, wie er sich seine Vergangenheit zurecht dachte.
So weit, so gut.
Nachdem ich mit dem Schreiben fertig war, stand ich in der Wohnzimmermitte und führte folgenden inneren Dialog:
Ich: Und jetzt? Ich sollte wieder nach Kronstein fahren.
Ich: Nein, Thomas, Kronstein gibt es nicht. Du bist Thomas, nicht Timon.
Ich: Aber ich bin doch hier in der Wohnung von Timon.
Ich: Das hier sieht so aus, als wäre es Timons Wohnung, weil du deine Wohnung in den Roman eingebracht hast.
Ich: Okay.
(Pause)
Ich: Also, soll ich jetzt nach Kronstein zurückfahren oder hier übernachten?
Ich habe dank des Rückwärtsschreibens der letzten Kapitel wieder etwas gelernt. Einen großen Zusammenhang über mein Schreiben, der – wenn ich genauer darauf geachtet hätte – mir schon vor zehn Jahren auffallen hätte können.
Nehmen wir an, eine Romanfassung ist eine Abfolge von beschriebenen Ereignissen E1 – E2 – E3 – … – EEnde
Früher dachte ich, im großen und ganzen ginge ich folgendermaßen vor:
In Wirklichkeit ist es so:
Am Anfang habe ich es eilig, zum Schluss EEnde zu gelangen. Ich hetze. Andererseits kenne ich meine Romanpersonen noch nicht so gut. Dann kommt oft die Kritik, dass ich zu dicht schriebe. Zu viel Handlung, zu viele Referenzen in zu wenig Zeilen. Kein Verweilen für den Leser. Kein Mitleben. Das führt also dazu, dass die als Einstieg geplanten Ereignisse in meinen Roman immer mehr Raum einnehmen, so lange, bis sie den Hauptteil meines Romans ausmachen (so geschehen etwa in der Archäologin).
Interessanterweise sind die eingefügten Stellen wie E1a2 oder E1b die besten (im Sinne, dass sie am meisten Emotionen beim Leser auslösen). Es sind meist Stellen, wo die äußerliche Handlung E1 – E2 – E3 nicht vorangetrieben wird. Aber es sind jene Stellen, wo sich im Inneren der Personen am meisten tut.
(Das Kürzen von Ereignissen und das Umstrukturieren hab ich jetzt hier noch nicht betrachtet.)
Es ist 23:03. Morgen Arbeitstag im Büro.
Aber ich kann doch jetzt unmöglich aufstehen und schlafen gehen, ich muss hier jetzt weitermachen mit dem Schreiben!
Vor einigen Tagen habe ich hier die Frage gestellt: Wie fühlt man sich, nachdem man jemanden krankenhausreif geschlagen hat?
Eine Frage wie bei etwas, das plötzlich passiert, zum Beispiel, ein Apfel fällt Timon auf den Kopf, und ich muss herausfinden, wie er sich nun fühlt.
Es ist schlichtweg die falsche Frage. Denn weit wichtiger ist: Was fühlt Timon vorher? Es muss in irgendetwas Großem drinnenstecken, sonst würde er nicht so etwas tun. Und dieses Große (sein Schuldgefühl) treibt ihn zu Tat an, und nachher ist es ja nicht weg. Nachher, verstärkt durch die Tat, geht es weiter. Timon hat es dann schwarz auf weiß: er trägt in sich die Erbschuld des Mannes schlechthin, nämlich, die Frau im Stich gelassen zu haben. So etwa hatte er sich bis zu Sophies Tod niemals ernsthaft darauf vorbereitet, mit ihr zusammen zu ziehen. Trotz gegensätzlicher Beteuerungen. Wäre sie nicht gestorben, wäre es aufgeflogen. Ein Teil von Timon wollte niemals das bisherige bequeme Leben aufgeben. Der andere Teil Timons war immer bemüht, dieses Versagen bis zur Selbstaufgabe zu kompensieren.
Das Schlimmste: Ein Teil von Timon war erleichtert, als Sophie tot war. Das ist etwas, das muss Timon vor sich selbst verstecken. Er zimmert er sich ein Idealbild der Beziehung zurecht. Aber Timon entkommt sich nicht. Das will ich so schildern, dass es fast zwangsweise zu der Entladung führt.
(Damit muss selbstverständlich die Textstelle, in der Timon auf Marx eintritt, massiv geändert werden.)
Klar weiß ich, was jetzt helfen würde: Schreiben. Ach, wenn ich doch ein Romanprojekt hätte! Aber ich habe keinen literarischen Rahmen mehr, in dem ich meine Unruhe irgendeiner Romanperson umhängen könnte. Und ohne Romanprojekt bleibt mir nur mein eigenes Leben.
aus: Thomas Wollinger: herausgeschnitten
Ein guter Ort, den Elevator Pitch deines Romanprojekts zu testen. Erzähl doch – ganz spontan – dem Herrn oder der Dame neben dir, worum es in deinem Roman geht.
… hinein finde, dass ich die rechte Schreibhaltung finde, für das, was nun kommt.
Blog: Gerne helfe ich dir. Sag, was kommt denn Timon in den Sinn, wenn er an „Schuld“ denkt?
Autor: Dass er ein Buch einmal nicht zurückgegeben hat und dass das schon 1993 war und er sich immer wieder daran erinnerte und dass das wohl nie aus seinem Kopf gehen wird. Ein dummes Beispiel, das weiß er auch…
Blog: Und warum ausgerechnet die Erinnerung an dieses Buch? Warum fühlt er sich nicht schuldig, weil er Sonntagszeitungen stiehlt?
Autor: Weil es mit Vertrauen zu tun hat – weil er versprochen hatte, dass er das Buch ganz sicher zurückgeben würde. Das Buch tut ihm immer noch weh.
Blog: Hat er das Buch noch?
Autor: Ja.
Blog: Er kann es ja zurückgeben.
Autor: Nein, sonst würde er seine Schuld offen eingestehen.
Blog: Schuld und Vertrauen gehören für Timon zusammen?
Autor: Und Versagen. Er ist schuldig, weil er Erwartungen nicht erfüllt hat.
Blog: Und woher kommen die Erwartungen?
Autor: Na, von den anderen. Aus ihm selbst.
Blog: Timon kann ja sagen: Das mache ich nicht. Zum Beispiel bei Sophie: „Ich will nicht mit dir nach Kronstein ziehen, ich will lieber in Wien weiterleben.“
Autor: Timon macht das nicht. Timon weicht Konflikten aus.
Blog: Du meinst, Timon ist konfliktscheu, bürdet sich stillschweigend Erwartungen auf, die er nicht erfüllen kann/will?
Autor: Eigentlich ja. Und die Erwartungen kommen von seinen Eltern, von seiner Erziehung. Und von seiner Mutter hört er „Männer entziehen sich ihrer Verantwortung“ – solches Verhalten verabscheut er, dennoch (oder gerade deshalb) tut er es. Und hasst sich dafür und dieser Hass…
Blog: Ja! Es wird! Weiter!
Autor: … und dieser Hass entlädt sich dann auf einen anderen Menschen (Marx). Auf einen, der ihn auf diesen wunden Punkt hinweist. Wobei dieser Marx vielleicht durch seine bloße Art Timon reizt, nicht so sehr durch das, was er tut. – Zum Beispiel, wenn Timon meint, Marx hätte seine Frau im Stich gelassen? Und wenn Marx Timons Verhalten spiegelt? Wir wissen ja, dass man auf das am stärksten reagiert, was man von sich selbst beim Gegenüber erkennt.
Blog: Ich glaube, du hast es.
Autor: Ich danke für dieses Gespräch, lieber Blog.
… also zur Abwechslung mal was Fröhliches :-)
Ich widme mich heute dem Thema, weshalb Timon ausrastet und Marx niederschlägt. Hauptsächlich ist es sein Gefühl, schuldig zu sein, zweites wird er von Marx laufend provoziert und auf diese mögliche Schuld hingewiesen, und drittens – als Anlass quasi – das Bedürfnis, Angelika beschützen zu müssen. Oder so. Oder ganz anders.
Und außerdem werde ich heute laufen gehen (auch Autoren sollten sich bewegen).
Habe mit ein paar Leuten darüber geredet. So einfach ist das alles nicht. Es gibt wohl folgende Tätertypen:
I. die Rotseher (sie rasten aus und können sich an die Tat nicht mehr erinnern)
II. die Choleriker (die bei Kleinigkeiten aufbrausen) und
III. die, bei denen es lange braucht, bis ihre innere Schwelle überschritten ist.
Die Frage, die mir entgegen geworfen wurde, lautete: »Was muss passieren, damit du – ja, genau du, Thomas! – jemanden niederschlägst?« Mir ist der Gedanke zuwider. An meine Schulzeit denkend bin ich wohl Typ III, und so auch Timon. Das bedeutet literarische Vorarbeit. Timon muss von dem Menschen, den er niederschlägt, intensiv gereizt werden. Mit Themen, die Timon ins Mark gehen.
Wie wäre es mit Schuld? Das ist schon bisher ein Thema Themen gewesen: Er war nicht in Kronstein gewesen, als Sophie umkam. Weil er sich dagegen spreizte, aus Wien fortzuziehen. Sophie gegenüber hatte er das nie ausgesprochen, aber er hatte die Übersiedlung hinausgezögert, soweit es ging. Erst bei der Geburt wollte er übersiedeln – und für die Übersiedlung selbst hatte er keine Vorkehrungen, Planungen getroffen. Je näher der Geburtstermin, desto heftiger klammerte er sich an seine verbleibenden Wiener Tage. Bis Sophie tot war. Dann blieb er in Wien.
Und wenn jetzt jemand kam und Timon mit dieser Schuld konfrontierte? Das könnte zum Beispiel der Journalist Rudolph Marx tun. Er provoziert des Provozierens willen, denn bei verwundeten Menschen – so lautet Marx‘ Methode – kämen die wahren Geschichten ans Tageslicht. Als er von Timon niedergeschlagen wird, hat Marx gewonnen.
Ja, genau genommen – warum bei zwanzig- oder dreißigtausend aufhören? Wieso überhaupt noch schreiben? Warum kritzelt man nicht einfach einen Plot und ein paar Motive auf einen Briefumschlag und belässt es dabei? […] Na los, Jungschriftsteller – gönnt euch doch mal einen Witz oder ein Adverb! Lasst euch nicht lumpen! Den Leser stört das nicht! Habt ihr euch mal angesehen, wie dick Bücher sind, die an Flughäfen verkauft werden? Die Menschen mögen das Überflüssige.
Aus: Nick Hornby: Mein Leben als Leser
Bevor Sie ein Adjektiv hinschreiben, kommen Sie zu mir in den dritten Stock und fragen, ob es nötig ist.
Georges Clemenceau, Journalist und Politiker, 1841 – 1929
Und was dann war – wie lange wird es gedauert haben? Eine Minute? Zwei? Wie lange braucht es, einen Menschen krankenhausreif zu treten? Ich kann mich erinnern. Aber was ich fühlte, Sophie! Bitte hilf mir. Das geht in mein Tiefes. Dort unten, wo es schwarz ist, wo alles zusammengeht: Kronstein und du und dein Museum und ich. Und dass sie dich umbrachten. Dass sie unser Kind töteten. Dass sie in mir etwas abrissen. Dass dieses Arschloch von Mörder immer noch lebte und dass er dich leiden hatte lassen. Und dass im großen Violanum keiner etwas unternommen hatte, dass irgendwer es doch hätte wissen müssen. Und dass auch ich es nicht gesehen hatte – ich hätte es wissen müssen, spüren müssen, ich hätte es riechen können wenn ich riechen könnte, und jeder Tritt forderte einen weiteren Tritt heraus, denn nach jedem Tritt war er immer noch da, stöhnte, hob die Unterarme, bis ich etwas an meinem Oberarm spürte. Eine Hand. Angelika. Sie flüsterte: »Bitte. Töte ihn nicht.«
So weit so gut. Und nun?
Wie geht es in Timons Innerem weiter? Wie komme ich an solche Emotionen heran? – Aus dem Autobiografischen schöpfen! – Wie denn, ich habe nie jemanden so geschlagen. – Alles, was du brauchst, steckt in dir. Du musst dich nur stellen. – Wie denn? Ich würde das, was Timon getan hat, niemals tun. – Timon auch nicht. Thomas, denk an deine Schulzeit, an diese dunkle Epoche- Was war da? – Das war doch nicht zu vergleichen! – Aber die Versatzstücke, Thomas! Angst, Wut, Verzweiflung, erinnerst du dich? – Nein. – Dann schau genau dort hin! Weiche nicht aus, das würden deine Texte sofort spüren. Du musst schürfen, viel Geröll wegmachen, bist du zu den Emotionssedimenten vordringst, aus denen du am Ende Timon gewinnst.
Ein Plot motiviert nicht einmal zum Weiterlesen.
Ein Plot hindert den Leser lediglich am Aufhören.
Der nicht ganz naheliegende, bei näherem Hinsehen jedoch zwingende Unterschied liegt in Folgendem: Wenn ein Leser weiterlesen möchte, dann liest er weiter, weil ihm das Buch gefällt. Wer hingegen einem Plot folgt, liest nicht deshalb weiter, weil ihn das Buch gerade jetzt, an der Stelle, die er liest, in sich hineinzieht, sondern weil er denkt, daß ihm das Buch gleich, sobald er diese Stelle hinter sich hat, gefallen wird; der Leser bekommt in jeder Zeile suggeriert, daß das Spannendste noch kommt. Die gerade gelesene Stelle erzeugt eine unerträgliche Spannung, der Moment ist nicht erfüllt, muß sich aber erfüllen, wenn die Zeit, die man dafür aufwendet, sich gelohnt haben soll. Der Leser wird durch das Versprechen einer Bedürfnisbefriedigung am Ende der Lektüre bei der Stange gehalten. Nicht weil ihm die Geschichte gefällt, liest er, sondern des Versprechens wegen.
Aus: Jagoda Marinic: Netzhaut