Hunderttausende Worte, trillionen Ideen

Our language, tiger, our language: hundreds of thousands of available words, trillions of legitimate new ideas, so that I can say the following sentence and be utterly sure that nobody has ever said it before in the history of human communication…

… zeitlos, dieser Humor.
Danke Christoph Dopplinger für diese Video-Empfehlung.

(Der andere Schauspieler, Hugh Laurie, ist heutzutage bekannt wegen seiner Rolle als Dr. House)

Wie vermittelt ein Text die Liebe, die Freude und das Schöne?

Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je.

André Gorz, Brief an D.

Warum berührt dieser Text? Ist es wegen „und ich liebe Dich mehr denn je“? Nein, denn das ist eine Zusammenfassung von dem, was schon vorher zu spüren war. Das Schöne zu nennen, reicht nicht. Der Leser will es spüren. Der Text zeigt, wie es gelingt. Denn:

Der Leser spürt das Schöne, wenn sich jemand im Text mit diesem Schönen beschäftigt und dessen Details wahrnimmt (genau hinsieht, hinhört, es riecht, es berührt oder es schmeckt).

Negative Gefühle beim Leser auszulösen, ist ein Leichtes – die Schönheit des Lebens und der Liebe zu vermitteln, das ist die hohe Kunst.

Herztransplantation oder: Wie Recherche mein Leben reicher macht

Im Zentrum meines Romans steht ein Hospital.

1) Im November 2008 erfand ich Angelika, eine sterbenskranke 13jährige, die ihre Herztransplantation verweigerte (inspiriert durch das Schicksal eines britischen Mädchens). Mit ihrer Hilfe werde ich das Wesen des Hospitals vermitteln.

2) Februar/März 2009 las ich etliche Fachbücher zum Thema sterbende Kinder, insbesondere Erfahrungsberichte von Müttern (Bei der Lektüre dieser Bücher habe ich öfters geweint).

3) Im März 2009 besuchte ich an einem Symposium über die Pflege sterbender Kinder (Palliativpflege). Das Symposium war von mehr als hundert Krankenschwestern besucht. Es ging vor allem um Sterbebegleitung für Kinder und um Betreuung für die trauernde Eltern.

Die Berichte waren erschütternd. Vor allem jener, in dem die Eltern ein letztes Mal ihr totes Baby waschen und anziehen, um sich zu verabschieden (Beim Haarewaschen schlug das Baby mit dem Kopf leicht gegen die Wasserschüssel, und die Mutter entschuldigte sich bei ihm). Die Vortragenden hatten allesamt eine belegte Stimme, wenn sie von den Kindern redeten, die sie begleiten durften.

4) Beim Symposium lernte ich M. kennen, die viel mit sterbenden Kindern gearbeitet hatte. Sie führte mich zu C., einer Spezialistin im Bereich Herztransplantation. C. sendete mir ihre Diplomarbeit über einen Buben, dem ein künstliches Herz eingesetzt wurde, damit er die Zeit zur Transplantation überlebt.

5) Durch M. lernte ich S. kennen, eine 19jährige, der im Alter von zehn ein Herz implantiert worden war.

Die Romanarbeit bringt mich zu außergewöhnlichen Themen und Menschen und macht mein Leben sehr reich.

Wie ich eine Szene schreibe oder: über die Notwendigkeit, Zeit zu vergeuden

Tag 1

Ich nehme mir vor, eine Szene zu schreiben und überlege mir, worum es gehen soll.

Ich sitze am Laptop und will weg vom Laptop. Ich zwinge mich zum sitzenbleiben, also surfe ich sinnlos und trinke Kaffee und esse Joghurt. Und wie dankbar bin ich, wenn ich etwas zu recherchieren habe! Recherchieren ist eine gute Entschuldigung, um abzudriften und sich nicht mit dem Wesentlichen zu beschäftigen. Ich erfinde sogar eine neue Personen und – dir hat‘s doch ins Hirn ge…issen! Keine neuen Personen! Konzentrier dich lieber auf das Wesentliche – Was ist das Wesentliche?

Ich bin unzufrieden mit meiner Leistung und höre nach etlichen Stunden zu schreiben auf.

Tag 2

Schreibe heute bewusst nichts. Mache anderes. Fühle mich abgelenkt, nicht besser.

Tag 3

Untertags bombardiert mich mein Hirn mit Worten, die es niederschreiben will. Habe aber keine Zeit zum Schreiben. Nur mal schnell vor den Laptop setzen, um Gedankenfetzen zu notieren. Daraus entstehen Absätze, Dialoge. Ich wundere mich über mich, dass ich die letzte Zeit so kompliziert gedacht habe. Brauche doch nur das Naheliegende niederschreiben! Abends, anstatt zu schlafen, tippe ich nieder, was zu tippen ist.

Tag 4

Ich nehme mir die nächste Szene vor. Ich überlege mir, worum es gehen soll.

Worte haben sich von den Inhalten gelöst

Jean Baudrillard meint, die Zeichen (Worte, Bilder) haben sich heutzutage von ihrem Bezeichneten gelöst und seien „referenzlos“ geworden.

Die Zeichencodes der modernen Städte, der Werbung und der Medien gäben nur noch vor, entschlüsselbare Botschaften zu sein.

In Wahrheit seien sie reiner Selbstzweck, mit dem das Gesamtsystem der Gesellschaft aufrechterhalten wird, damit „jeder an seinem Platz bleibt“.

Show, don’t tell, Teil II oder: Der Autor bricht die Regeln

„Show, don’t tell“ heißt, wie gesagt, das Geschehen wirken lassen, ohne zu werten. Ich zeigte auch, wie Dostojewskij in Schuld und Sühne dieses Prinzip verwendete und den Leser selbst zu seinen Empfindungen kommen lässt. Doch dann diese Stelle:

Ein Schweigen trat ein. Sowohl ihr Gespräch wie dieses Schweigen war mit Spannung geladen, ihre Versönung so gut wie die Bitte um Verzeihung, und alle fühlten das. (Dostojewskij in Schuld und Sühne, Teil III, Kapitel 3)

Hier werden Eindrücke und Gefühle genannt, anstatt sie beim Leser auszulösen; dies ist eine Art Regieanweisung an den Leser, wo ihm mitgeteilt wird, was er denn von dieser Situation zu meinen habe. Dem Leser wird kein Raum gegeben, diesen Eindruck selbst zu entwickeln oder sich eine abweichende Meinung zu bilden. Die Gefahr dabei ist die Inkonstienz: Dass der Eindruck, den der Leser hat, ein anderer ist als jener Eindruck, den der Autor benennt.

Als Autor habe ich die Verpflichtung, eingefahrene Muster zu hinterfragen und aufzubrechen. Dies gilt für das Inhaltliche, natürlich, aber auch für meine Art zu Schreiben. Um dies gezielt tun zu können, muss ich mit den Gesetzmäßigkeiten vertraut sein, sonst scheitere ich.

Ein schön gescheitertes Beispiel aus der bildenden Kunst ist Das Abendmahl von da Vinci, das kaputt ist, weil da Vinci die Freskotechnik nicht beherrschte.

Als Autor brauche ich Erfahrung mit handwerklichen Mitteln, um diese bewusst nicht einzusetzen. Dann verzichte ich bewusst auf deren Wirkung, um dafür etwas anderes zu entfachen.

Perspektivenmanagement – der Trick mit der Ich-Form

Wer von der personellen Perspektive gerne und unabsichtlich in die auktorielle (allwissende) Perspektive hinüberdriftet, dem lege ich ans Herz, den Text der Ich-Form zu schreiben. Dies zwingt zur Klarheit – und es ist ein Leichtes, im Nachhinein den Text von der ersten auf die dritte Person umzuschreiben.

Erzählperspektive und Perspektivenmanagement

Was darf der Erzähler wissen? Was darf er wahrnehmen oder nicht wahrnehmen? In wessen Kopf steckt der Erzähler? Hier gibt es zwei grundlegende Ansätze:

  1. Auktorieller Erzähler: Man bedient sich der Stimme des allwissenden Erzählers zu bedienen. Der Autor selbst also schildert die Szenerie, frühere Ereignisse, gegenwärtige Vorgänge, das Äußere der Figuren und ihr Innenleben.
  2. Personeller Erzähler: Der Autor schlüpft innerhalb einer Szene jeweils in genau eine Romanperson und erzählt aus dieser eingeschränkter Perspektive. Der Leser erlebt die Szene über die fiktive Person, durch ihre Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen) oder ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerungen.

Ich bin Verfechter der personellen Erzählperspektive. Denn da erleben wir Leser die Handlung so wie die betreffende Person selbst. Lesern und Autor bleiben keine Fluchtmöglichkeiten. Der Autor ist gezwungen, sich den Personen zu stellen. Er muss sich in seine Personen vertiefen, je nachdem, welche von ihnen in einer Situation am stärksten emotional beteiligt ist. Von Szene zu Szene lernen wir Leser die Person besser kennen. Ein gutes Perspektivenmanagement eröffnet eine Fülle von Möglichkeiten (Spannungsbögen, unterschiedliche Wahrnehmung desselben Ereignisses, einfache Charakterisierung einer Person aufgrund dessen, was sie wahrnimmt,…).

Manche Autoren nehmen sich mehr Freiheiten. Ein Beispiel für die lockerere Handhabung von Perspektiven ist Dostojewskij’s Schuld und Sühne. Die ersten Kapitel sind noch streng aus dem Blickwinkel des Protagonisten geschrieben (Glanzstück ist die Beschreibung des Doppelmords). Die Innensicht anderer Personen wird durch direkte Reden oder in Form eines Briefs gegeben. Später springt die Perspektive hin zum Freund des Protagonisten, dann zur Mutter und zur Schwester. In folgendem Ausschnitt kommt auch noch ein allwissender Erzähler hinzu:

Hätte er einen schärferen Blick besessen, so hätte er bemerkt, dass hier von pathetischer Stimmung keine Rede sein konnte, dass gerade das Gegenteil vorlag. Aber Awdotja Romanowna hatte dies erkannt. Angespannt und unruhig beobachtete sie den Bruder.

Dostojewskij, Schuld und Sühne, Teil III, Kapitel 3

„Warum schreibst du den Roman?“

Damit ich nachhaltig (Lese–)Freude bereite

oder

weil dieses Leben so reich und vielfältig ist und ich darauf halbwegs angemessen reagieren will

oder

weil für mich Talent und Verpflichtung Hand in Hand gehen – wer ein Talent hat, hat die Verpflichtung, es zu nutzen.

Oder

weil mir das Schreiben gut tut

oder

weil ich nicht anders kann.

Neue Lage: 250.000 Zeichen = 1 cm = 1/4 Roman

Quartalsfeier wäre angesagt. Sitze stattdessen benommen da. Durchatmen, bevor es weitergeht. Die Romanpersonen drängen mich. Bin nicht mehr ihr Schöpfer, ich bin ihr Handlanger. Sie sagen mir, was sie tun, und ich schreibe es nieder.

Klar wird sich am Geschriebenen noch einiges ändern – aber immerhin. Seit 3 Jahren arbeite ich daran. Letzten Juni habe ich den damaligen Text gänzlich verworfen. Vielleicht dauert es noch 2 Jahre.

Wie ich auf die Million als Zielwert komme? Mein Roman ist weit komplexer als mein Erstlingswerk „Die Archäologin“ (mit einer halben Million). Andererseits will ich nur das Nötigste niederschreiben – deshalb bloß eine Million Zeichen, 4 cm, 570 Buchseiten.

Zeitloser Dostojewskij

In Schuld und Sühne gibt es eine Diskussion über die Grundannahme unseres heutigen Wirtschaftssystems – nämlich, dass Selbstsucht zum Wohle aller sei. (Siehe Auszug am Ende dieses Artikels).

Wenn etwas zeitlos ist, dann reicht seine Gültigkeit nicht bloß in die Gegenwart herüber, sondern auch tief in die Vergangenheit.

Das will ich zeigen, indem ich Dostojewskijs Diskussion in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs versetze (und zwar in Form eines der vielen Briefe, den Stephan als Nachruf über seine Geliebte Viola schreibt; diese Stephanbriefe sind Teil meines Romans).

52. Stephanbrief – Viola und der Händler

Viola trat zum Viktualienhändler und sprach:
Weshalb ist der Schäffel Roggen gar so teuer?

Der Händler sagte:
Es ist der Krieg.
Es ist die Missernte.
Es ist die Hungersnot.
Das treibt es die Preise an.

Und Viola sprach:
Hat der Krieg schon dein Gehöft erreicht?
Hat Hagel deine Felder zerstört?
Muss deine Familie hungrig zu Bette gehen?
Gibst du das Korn für weniger her,
so können auch die Armen
einmal satt den Tag beenden.

Der Händler sprach:
Ach, ich weiß alles über Nächstenliebe!
Ich riss meinen Mantel in zwei
und gab einen davon meinem Nächsten,
und wir blieben beide zur Hälfte nackt.
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