Beschreibung des Seminarraums der Leondinger Akademie für Literatur

Sehr geehrte Frau Mutter, weil Sie anfragten, wie es mir hier erginge, will ich Ihnen die Räumlichkeit schildern, in der wir Literaten arbeiten. Es ist ein Dachboden in einem alten Haus. Wände gibt es nur vorne und hinten, sonst zu beiden Seiten bloßes Schrägdach, das oben an der Firstlinie so hoch ist wie drei Mann, die übereinander stehen, der untere, Frau Mutter, muss ein breiter, kräftiger Bursche sein, damit er das Gewicht der beiden anderen stemmen kann, und der oberste, so ein dünner Junge, der kann sich schon mit seinen Handflächen links und rechts abstützen. Die drei können allerdings nicht auf und ab gehen wie sie es vielleicht in der Manege tun, denn hier gibt es Querbalken. Die sind auf Bauchhöhe des mittleren Mannes, viele sind es, bloß einen Schritt voneinander entfernt. Über meinem üblichen Arbeitsplatz in der Mitte des Raumes gibt es einen Querbalken, also Frau Mutter, der ist gefährlich, denn da ragt eine gemeine Schraube heraus, und wenn die drei Männer gerade vor diesem Balken stünden und der Stemmer – Gott bewahre! – etwas nur ins Wanken käme und der mittlere am Holz Halt suchte und die Schraube übersähe, oder stellen Sie sich vor, der Mittlere sähe die Schraube sehr wohl, doch von der wankenden Last auf seinen Schultern vorwärts gedrückt müsste er zusehen, wie die Schraube mit ihrem stumpfen Ende durch den eigenen Nabel gedrückt würde, aber der Mittlere darf nicht nachgeben denn der, den er trägt, ist sein Bruder, und er liebt seinen Bruder, aber die Schraube ist so tief in seinem Bauch, dass er es kaum noch aushält und der unterste, der Stemmer, der spürt, dass es dem über ihm schlecht ergeht, und der über ihm ist sein Bruder und auch er liebt seinen Bruder, er weiß aber nicht, dass sich das Gedärm des geliebten Bruders an der Schraube verhängt hat, also der Stemmer macht das, was er üblicherweise tut, wenn die Kräfte nachlassen: er geht in die Knie.

Werte Mutter, es gibt auch noch eine besondere Türe hier drinnen, sie befindet sich auf Höhe der Querbalken. Würde man unachtsam durch sie hereintreten, man würde so tief fallen wie der oberste der drei Brüder. Aber wenn man vorsichtig ist, dann kann man von dieser Türe mit einem großen Schritt gleich auf dem ersten Querbalken steigen und könnte von Balken zu Balken weitergehen, bis man jenen Balken erreicht, wo die gemeine Schraube herausragt. Und wenn man sich bückt – nur nicht das Gleichgewicht verlieren! – dann kann man den Darm von der Schraube ziehen, damit der Doktor, der unten beim mittleren Bruder kniet, den Darm in den Bauchraum zurückstopfen kann.


Entstanden im Rahmen der Leondinger Akademie für Literatur am 31.5.2006. Die Aufgabe, die Gerd Jonke stellte, lautete: Irgendetwas ist so zu beschreiben, dass es am Ende der Beschreibung als etwas ganz anderes erscheint.

Chlorid

Draußen der Nebel, und ich sitze seit viereinviertel Stunden auf meiner blauen Couch. Es dämmert. Ich höre mich atmen.

Ich mag diese Couch. Die Lehnen sind schräg. Man kann sich bequem nach hinten lehnen. Vor viereinviertel Stunden habe ich die Handflächen neben meine Oberschenkel gelegt. Dort sind sie immer noch. Wenn ich etwas bewege, dann hauptsächlich die Augen und nur wenig den Kopf.

Das Wohnzimmer ist geräumig.

Links die drei Fenster. Keine Vorhänge, keine Jalousien. Ich habe in der Regel nichts zu verbergen.

Rechts die Wohnküche.

Weiße Kästen, alles sauber. Ich habe in der Regel nichts zu kochen.

Hinter mir eine Wand mit dem gemalten Bild. Wenn ich mich umdrehte, könnte ich es sehen. Aber das tue ich lieber nicht. Vor viereinviertel Stunden ist es noch da gehangen. Wenn es jetzt fort wäre, es würde meine Situation verkomplizieren. Darum denke ich mir, dass es noch da ist.

Über mir eine weiße Decke.

Unter mir, zwischen Boden und Fußsohlenhaut, ein Teppich.

Vor einigen Wochen hat sie mich besucht. Sie hat gelacht. Und dann hat sie gesagt, du wohnst schon so lange da, es sieht aber so unbewohnt aus, wann kaufst du dir Möbel. Da habe ich mir diesem Couchtisch besorgt. Dreifüßig, mit der Glasplatte, die auf drei Saugnäpfen ruht.

Ich höre das Atmen.

Neben mir, auf der Couch, dort, wo ein anderer Mensch Platz finden könnte, steht das Telefon. Es hat geläutet, ich bin aufgewacht, ins Wohnzimmer gewankt und habe mich hergesetzt. Der Anrufbeantworter hat sich eingeschaltet. Mein Ansagetext. Dann schweigen. Atmen. Der Anrufer offenbar verwirrt, nicht mit mir persönlich zu sprechen.

Dann hat er etwas gesagt. Seine Stimme hat im Zimmer gehallt. Ich habe den Hörer nicht abgehoben, denn die Stimme hat gleich geklungen wie die von der Ansage. Und ich bin sicher, dass ich die Ansage selbst aufgesprochen habe.

Die Stimme hat gesagt: „Ich bin am Sterben.“

Aufgelegt. Zweimal das Tuten des Telefons.

Stille.

Seither blinkt der Anrufbeantworter wegen der neuen Nachricht, und ich sitze hier. Die Handflächen neben den Oberschenkeln am weichen, blauen Couchüberzug.

Ich denke mir etwas. Nämlich, dass die Stimme nur aus einem Traum stammt. Dann denke ich nichts mehr. Spüre nur den weichen Möbelstoff auf den Handflächen und den Teppich auf den Sohlen. Früher habe ich über vieles nachgedacht. Aber da hatte ich noch Pickel. Die sind dann verschwunden.

Das Atmen wird lauter. Es ist fremdes Atmen.

Ich schaue auf die Saugnäpfe, auf denen die Glasplatte ruht. Wenn ich die Platte hebe, löst sie sich dann vor den drei Tischfüßchen? Ich beginne mich zu bewegen, um das auszuprobieren. Das Glas haftet nicht. Ich lege das Glas auf den Teppich, lecke die drei Saugnäpfe ab. Dann lege ich die Glasplatte wieder darauf, anpressen und warten. Zum Warten setze ich mich wieder auf die Couch. Es ist eigentlich alles so wie vorhin. Bis auf den Speichel zwischen Saugnäpfen und Glasplatte. Der Anrufbeantworter blinkt.

Das fremde Atmen will ich nicht mehr ertragen.

Ich stehe auf, mache vier Schritte zur Wohnküche und ich öffne einen Kasten. Da sind die weißen Plastikflaschen eingeordnet, mit je einem Liter Chlorid. Ich achte darauf, dass ich immer zehn habe. Man weiß ja nie, es kann schlimme Nächte geben. Chlorid erspart die Hausapotheke. Denn wenn alles sauber ist, gibt es keine Krankheit.

Ich schraube eine solche Flasche auf. Entleere sie in den Ausguss. Ein Aufschrei. Weißer Schaum dringt heraus, ich weiß, der Abfluss ist seit langem verstopft. Das Schreien verebbt, geht in Stöhnen über. Ich lege die Hand auf die Nirostaabwasch, spüre das Zittern. Wie von einem Fieberkranken mit Schüttelfrost. Drehe den Wasserhahn auf, Entspannung, das Zittern lässt nach.

Ich weiß, was da im Abfluss fest sitzt. Amorphe Masse, fett geworden. Es hat schwarze, glitschige Haut. Ich kenne es aus diesen Träumen, von denen ich nicht erzählen werde. Wenn die Säure seine Haut zerfrisst, gibt es Ruhe. Für eine Weile.

Ich könnte jetzt schlafen gehen.

Draußen der Nebel. Nach meiner Uhr müsste die Sonne schon aufgegangen sein. Nein. Stattdessen ein Grauschleier, nur gut, dass die Fenster zu sind, sonst würde der Nebel eindringen, sich über mein Gesicht legen und mich ersticken.

Ich sollte die Wohnung verlassen.

Vorher gehe ich noch zur Toilette. Aus Gewohnheit. Vergesse, dass ich nicht hinein kann. Denn die Türe ist von innen abgesperrt, noch immer.

Dass ich nicht ins Klo kann, ist kein Problem. Ich benutze eben das Waschbecken, ich schaue mir dabei gerne ins Gesicht, ob ich noch pickelfrei bin. Zwei Tage, nachdem sie sich eingesperrt hat, habe ich den Türspalt zugeklebt. Mit Isolierband. Wegen des Geruchs. Nach einer Woche ist etwas durchgesickert. Unter der Türe. Also habe ich Fensterkitt verwendet.

Seither keinen Damenbesuch mehr in dieser Wohnung.

Ich war gezwungen, meinen Stuhlgang anders zu organisieren. Dafür habe ich mir die Verschweißmaschine angeschafft. Eine praktische Sache für Lebensmittel, die man luftdicht in Gefrierbeutel verschweißen will. Aber ich habe in der Regel keine Lebensmittel. Und auch keine Gefriertruhe. Darum verwende immer zwei Gefrierbeutel, doppelt hält besser, denke ich, wegen des Geruchs. Die Plastikbeutel schlichte ich über den Chloridflaschen ein.

Ich verlasse die Wohnung.

Ich gehe in die Garage.

Starte meinen Wagen, kontrolliere, ob die Klimaanlage auf Umluft eingestellt ist.

Fahre durch die Stadt, parke, steige aus, halte mir ein Taschentuch vor das Gesicht, wegen des dichten Nebels.

Gehe in ein Haus, in den zweiten Stock. Ordination Dr. Müller steht hier. Ich läute, die Empfangsdame schaut mich an.

„Was haben Sie?“, fragt sie.

„Müde bin ich“, antworte ich.

„Ach, warum denn?“

„Heute habe ich mich mitten in der Nacht angerufen. Das hat aufgeweckt.“

Sie kichert, ich gehe durch das Wartezimmer, wo schon etliche Frauen sitzen, ich grüße, gehe in das Behandlungszimmer, ziehe mir einen weißen Mantel über das Sakko und lese die Krankengeschichte der ersten Patientin. Ich bitte sie herein, eine junge Frau. Halbjährliche Untersuchung. Ich sage ihr, sie soll sich frei machen, wir machen jetzt einen Abstrich, das kennen Sie ja. Sie setzt sich auf den Stuhl, die Beine hoch und gespreizt, sie erzählt mir unaufgefordert von ihrer letzten Beziehung. Frauen erzählen mir immer viel. Sie vertrauen mir.

Ich werfe einen kurzen Blick auf ihr Geschlecht, dann ziehe ich mir Gummihandschuhe an und öffne den Kasten, wo ich die Chloridflaschen eingeordnet habe.

(c) Thomas Wollinger 2002

Der Bub im Pool

„Mir ist urkalt hier. Den Pool habe ich vom Vater zum Geburtstag gekriegt. Schauen Sie sich ruhig um. Heute ist keiner da, die Dienstboten haben frei. Ein schönes Haus, gell? Das gehört unserer Familie seit hundert Jahren oder zweihundert oder so, aber das weiß ich nicht genau. Wir haben achtundvierzig Zimmer. Das weiß ich genau, weil die hab ich gezählt. Ich kann sie Ihnen zeigen, wenn ich hier fertig bin. Die Familie ist das Wichtigste, sagt der Vater. Und unser guter Name. Sie kennen unseren Doppelnamen, der steht auf fast jeder Senftube. Wir müssen alles tun, um den guten Namen rein zu halten, wegen dem Senfgeschäft, sagt er, darum hat er aufgehört, mit Mutter zu streiten. Sie hat jetzt ein Zimmer dort im Westflügel.

„Ich habe nicht gewollt, dass uns mein Bruder Schande macht. Weil Schwule sind eine Schande, hat mein Vater einmal auf einer Versammlung gesagt. Da waren viele Leute, die ich aus dem Fernsehen kenne. Und alle haben geklatscht. Darum habe ich mir diesen Pool gewünscht. Obwohl ich Schwimmen gar nicht mag. Ich bin jeden Tag hineingegangen und habe so getan, als ob das urtoll ist – damit mein Bruder auch ins Wasser kommt.

„Sie fragen mich, woher weiß ich das mit dem Schwul, wo er doch erst elf Jahre alt war? Mein Vater sagt: Die Schwulen sind ganz anders. Und mein Bruder war ganz anders. Er war immer so dünn, wissen Sie, weil er so wenig gegessen hat, und er hat einen großen Kopf und blaue Augen gehabt. Mein Vater sagt: Schwule interessieren sich nicht für Mädchen. Und mein Bruder hat sich nicht für Mädchen interessiert. Er hat lieber am Computer gespielt.

„Im tiefen Wasser habe ich ihn untergetaucht, bis er nicht mehr gestrampelt hat. Das war urleicht, weil er so dünn war. Dann habe ich ihn ans Ufer gezogen, bin zu meiner Mutter gelaufen und habe geheult. Und was hat sie gemacht? Sie hat sich über ihn gebeugt, ihm in den Mund geblasen und auf die Brust gedrückt, und dann hat er wieder geatmet. Jetzt wissen Sie, warum ich hier so lange warten muss.

„Mein Bruder musste ab dann gefüttert werden. Geredet hat er auch nicht, er hat nur in die Luft gestarrt mit seinen blauen Augen und hat nur gelächelt. Das war schlimmer als schwul. Denn die Leute können glauben, sein Hirnausfall kommt vom Senf. Also habe ich den Rollstuhl zum Pool gefahren und habe ihn hinein gekippt. Meinen Bruder, meine ich. Er ist von alleine untergegangen. Zum Glück habe ich nicht ins kalte Wasser müssen.

„Dann hat meine Schwester die Briefe gefunden. Irgendein Mädchen hat sie ihm geschickt. Die hat geschrieben, dass sie traurig ist, dass mein Bruder ihr nicht mehr schreibt. Das hat er ja nicht können, weil sein Hirn kaputt war. Das mit den Briefen war mir echt unangenehm. Weil er ja nicht schwul ist, wenn er mit Mädchen was macht. Und ich habe mir gedacht: wenn jemand herausfindet, dass ich ihn umsonst umgebracht habe, dann ist das urarg. Wegen der Schande. Die Briefe habe ich meiner Schwester weggenommen und zerrissen und die Papierschnitzeln weggeworfen, und meine Schwester hat geschrieen. Ich hab was tun müssen, dass sie mich nicht verpetzt. Heute noch, weil Mutter will nächste Woche den Pool abreißen. Der bringt Unglück, hat sie gesagt.

„Natürlich tun mir die Kratzer im Gesicht weh. Aber es ist nicht so arg. Aber mein Bein tut viel mehr weh. Weil sie hinein gebissen hat. Das brennt echt arg. So, jetzt bin ich fertig. Mir ist so kalt! Bitte geben Sie mit das Handtuch dort. Jetzt zeige ich Ihnen mein Stickeralbum – ich habe alle Fußballer von der letzten WM.“


Dies ist der erste meiner Texte, der veröffentlicht wurde.

Der rote Pullover (über die Liebe)

(1)

Von all den Männern, die Mama hatte, war ihm Onkel Hans am liebsten. Dominik war sechs, als er ihn kennen lernte. Mama brachte ihn eines Abends heim und sagte: „Das ist Hans. Jetzt ist er dein Onkel.“

„Was ist mit Onkel Franjo?“, fragte Dominik.

Onkel Hans beugte sich herab und streckte Dominik die Hand hin. Eine große Hand war das. Dominik griff nach dem Daumen. Mama ging in die Küche. Onkel Hans stand Dominik gegenüber. Sie schwiegen und schauten einander an. Dann sagte Dominik: „Du bist ja auch dick.“

„Ich bin rund“, sagte Onkel Hans.

Dominik sagte: „In der Schule sagen sie Kugel zu mir.“

Sie schwiegen und schauten eine Weile.

„Du hast einen schönen Pullover“, sagte Dominik.

„Danke.“

„Rot ist meine Lieblingsfarbe“, sagte Dominik.

Mama kam wieder, mit zwei Sektgläsern, und Onkel Hans meinte, Dominik sollte mittrinken. „Spinnst du?“, sagte Mama. Onkel Hans holte ein Sektglas, prickelndes Mineralwasser mit einem Schuss Orange, zu dritt stießen sie an, und Mama lächelte sogar.
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Tod einer Radfahrerin

Vor dem Gasthof stellt Rosa ihre Reisetasche ab. Mit einem Taschentuch wischt sie sich die Stirne trocken. Schweiß rinnt von ihren Achseln. Sie stützt sich am Torbogen ab. Der Stein fühlt sich bröselig an.

„Ich werde hinein gehen“, sagt sie.

Sie bückt sich nach der Tasche, die Schulter schmerzt vom Gewicht, sie öffnet die Tür und bückt sich wieder, weil der Torbogen so niedrig ist. Sie schaut sich um. Über ihr rissiges Holzgebälk. Unter ihr Kachelboden. Vor ihr ein Tischchen mit einer Holzfigur: Eine Frau, die Knie zur Brust gehoben, der Kopf nach vor gebeugt, Hände und Oberarme an den Kopf gepresst. Rosa berührt den Rücken der Gekrümmten.

„Sie wünschen?“, sagt jemand.

Rosa erschrickt.

„Sind Sie bei der Gruppe?“, fragt ein Mann.

„Ja.“

„Die Umweltgruppe?“

„Nein.“

„Die Familienaufstellung?“

„Nein, die Schreibgruppe.“

„Welche?“

Rosa nennt den Namen der Literatin.

„Ah, bei der“, sagt der Mann. Und dann: „Wir haben kein Doppelzimmer mehr, das Sie mit jemandem teilen könnten. Nur mehr Einzelzimmer. Ist leider teurer.“

Geld, denkt Rosa. Als wäre das noch wichtig. Der Mann führt sie eine Treppe hinauf, die Reisetasche muss sie tragen. Der Schlüssel, den er ihr in die Hand legt, ist so lang wie ein Suppenlöffel, und das Schloss zu ihrem Zimmer ist älter als Rosas Mutter.

Der Nachmittag ist noch etwas sonnig. Rosa geht im Garten umher und macht Fotos mit ihrem Handy. Vielleicht darf sie die Bilder mitnehmen. Erinnerungen vom letzten Tag. Aber auch das Handy werden sie ihr nehmen. Sie könnte ihren Freund anrufen. Und was sollte sie ihm sagen? Alles? Was könnte er tun? Nichts.

Sie denkt daran, dass sie mit ihm glücklich ist.

Glücklich war.

Eigentlich.

Bei Sonnenuntergang das gemeinsame Abendessen. Die Teller werden aufgefüllt. Jemand sagt Mahlzeit, Rosa greift nach der Gabel. Jemand erzählt Rosa irgendetwas. Rosa legt die Gabel zur Seite. Sie greift sich an den Hinterkopf. Dabei hatte sie noch so viel vor im Leben.

Zum Beispiel.

Dies.

Oder das.

Sie denkt an ihre Schwester. Die mit Haus und Mann, aber nicht an die, die jetzt durch Asien zieht und ab und an Postkarten schreibt, von Orten, die Rosa aus den Nachrichten kennt, wenn es wieder einmal Unruhen dort gibt und sich Mutter Sorgen macht.

Dann die erste Sitzung. Die Literatin kommt in den Saal, unter ihrem Arm ein Stapel Bücher. Feuerrotes Haar mit dunklem Ansatz. Die Literatin schreibt ihren Namen auf das Flip Chart. Malt eine Blume über dem I. Der Filzstift quietscht. Eine Minute lang. Wegen der vielen Blütenblätter. Die Literatin redet über das Ausschmücken von Texten. Weiblichkeit und Fülle in die Literatur bringen. Adjektiven den Raum geben, den sie verdienen. Duftende Sprache, meint sie. Und bunte Wörter. In der Vorstellungsrunde sagt Rosa, dass sie mit dem Schreiben angefangen hat, um sich über Dinge klar zu werden. Die anderen schauen sie an. Draußen klimpert ein Glockenspiel im Wind. Jetzt spricht wieder die Literatin. Die erste Aufgabe. Wir suchen Adjektive, die uns beschreiben. Rosa fragt sich, ob Rot ein Adjektiv ist.

Auch ein Mann ist dabei. Nachher stellt er sich zu Rosa. Sie war elf, als er geboren wurde. Was er denn bei Frauenliteratur zu suchen hätte.

„Ich will einen großen Frauenroman schreiben“, meint er.

Er schaut Rosa an.

„Frauen verstehen?“, fragt sie.

„Ja“, sagt er. „Frauen über dreißig.“

Sie sprechen über Literatur. Dann gehen sie auf sein Zimmer. Sie klettert auf das Hochbett, er stützt sie dabei, mit seiner Hand auf ihrem Po. Kondome? Das ist doch auch schon egal. Aber er hat welche. Er bemüht sich. Er bindet sogar ihr die Augen zu. Er rollt sie auf den Bauch, legt sich auf sie, seine Hände unterfassen ihre Brüste. Sie sagt, du kannst mir richtig wehtun. Er bemüht sich.

Als es vorbei ist, richtet sich Rosa auf, stößt mit dem Kopf an die Zimmerdecke. Sie krümmt sich, zieht den Kopf zum Kinn, umfasst ihren Schädel. Er berührt sie, sie schüttelt sich. Als sie wieder denken kann, nimmt sie die Augenbinde ab, steigt die Leiter hinab, sammelt ihre Sachen ein, geht in ihr Zimmer, wäscht sich das Gesicht. Die Reisetasche gepackt, die Hände in den Schoß gelegt, die Haare aus der Stirn gestreift. Das Fenster offen. Der Wind hat nachgelassen, das Glockenspiel schweigt. Um vier Uhr morgens ist es soweit. Es klopft. Rosa erhebt sich. Zwei Männer.

„Wir sind wegen dem Unfall hier“, sagt der eine.

„Wir sind wegen des Unfalls hier“, sagt der andere. „Gestern Nachmittag.“

Sie gehen die Treppe hinab, vorbei an der Gekrümmten aus Holz, dann durch den steinernen Torbogen hinaus ins Dunkle.

„Ist das ihr Wagen?“, fragt einer. Mit seiner Taschenlampe beleuchtet er die Kühlerhaube. Etwas wird sichtbar.


Entstanden anlässlich der Schreibwerkstatt mit Robert Schindel in Langschlag, September 2005.

Die Aufgabenstellung lautete: Einen Text zum Thema „Tod einer Radfahrerin“ oder „Tod eines Radfahrers“ zu schreiben. Dabei durfte der Tod des Radfahrers nicht expliziert werden (Aussparung). Der Schlusssatz war ebenfalls vorgegeben.

Heikle Nähe

(1)

Eine Frau mit blauen Haaren geht über die braune Wiese. Hinter ihr geht Gerd.

„Warum hast du blaue Haare?“, fragt Gerd.

Sie sagt: „Blau ist der Himmel.“

Gerd schaut hinauf. Über ihm die graue Wolkendecke.

„Meine Oma hatte auch blaue Haare“, sagt Gerd. „Das kommt vom Weißfärben. Wenn man die Chemie lange wirken lässt.“

Sie sagt: „Meine Oma ist tot.“

Er fragt: „Hat deine Oma auch blaue Haare?“

Sie sagt: „Meine Oma hat einen schwarzen Grabstein mit goldenen Buchstaben.“

Er sagt: „Alte Leute haben oft blaue Haare.“

Sie ist eine junge Frau. Ihr blaues Haar wirkt willenlos, vom Wind hochgehoben und nach links und nach rechts gelegt, wie Wasserpflazen am Riff, wenn die Flut einsetzt. Sie trägt einen schwarzen Mantel, unten staubig, weil er bei jedem Schritt ihre Stiefel streift. Auf dem Rücken des Mantels eine goldene Jahreszahl. Vorletztes Jahr.

„Früher war ich öfters hier“, sagt sie.

„Hier, wo die Wiese so braun ist?“, fragt Gerd. Dort unten, wo es nicht so steil ist, erstreckt sich eine grüne Wiese und darüber blauer Himmel und die Sonne scheint hell hinunter.

„Mit Vater war ich öfters hier“, sagt sie.

„Dein Vater mag deine blauen Haare nicht“, sagt Gerd.

„Woher weißt du?“

Gerd zuckt mit den Schultern, das kann sie nicht sehen, weil sie vor ihm geht.

„Hier will das Gras nicht wachsen“, sagt sie.

Er sagt nichts.

Sie sagt: „Hier kommt keiner her. Die Leute mögen viel lieber die grüne Wiese.“

„Und den blauen Himmel“, sagt er.

„Früher war die Wiese noch grün“, sagt Gerd.

„Woher weißt du?“, fragt sie.

Gerd zuckt mit den Schultern, das kann sie sehen, denn sie ist stehen geblieben und schaut herüber. Sie stehen am Rand des Waldes. Im Wald sind viele Bäume.

„Hierher kommst du mit deinem Vater?“, fragt Gerd.

„Mein Vater hat einen goldenen Grabstein mit schwarzen Buchstaben.“

„Er ist vorletztes Jahr gestorben?“, sagt er.

„Fick mich“, sagt sie.

„Hä?“ Gerd steckt die Hände in seine Hosentasche.

„Du kannst mir deinen Schwanz auch in den Arsch stecken. Keine Angst.“

Sie reicht ihm ein Kondom.

Gerd atmet, tut aber sonst nichts.

Sie steckt das Kondom in ihre Manteltasche. Sie öffnet ihren Gürtel. Darunter trägt sie einen fettigen, blauen Pullover.

„Hier hört mich keiner Schreien“, sagt sie.

Gerd schaut sich um.

„Du kannst mich auch schlagen.“

Gerd drückt sich die Hände tiefer in die Hosentaschen, presst sich die Ellbogen an die Rippen.

„Wenn du mir die Nase brichst, dann wird sie vielleicht schief und dann muss ich mir die Haare nicht mehr färben, und ich habe ja auch versucht, dicker zu werden, aber ich kann essen was ich will“, sagt sie.

„Ich will nicht“, sagt Gerd.

„Warum nicht? Ich kann gut still halten.“

„Du bist zu hässlich.“

„Wirklich?“ Sie strahlt ihn an, stellt sich zu ihm, und küsst ihn auf die Wange, ohne ihn zu berühren. Gerd schüttelt den Kopf, aber das kann sie nicht mehr sehen, denn sie ist schon fortgelaufen. Er tritt hinaus aus den Wald, schaut den Hügel hinab und beobachtet sie, unten auf der grünen Wiese, mit wehendem Mantel, wie auf und ab läuft, und er denkt sich, wie schön ist sie doch.

(2)

Sie streckt die Arme zur Seite, sie dreht sich, legt den Kopf in den Nacken, schaut hinauf in den Himmel, bald der Frühling da, die Sonne und die Augen geschlossen und nur mehr Wärme auf den Wangen und das streifende Geräusch ihrer Stiefel auf der Wiese und das Summen der Insekten und den ersten Honighauch von den Bäumen geatmet und links wird vorne wird rechts und hinten nur oben bleibt weil von dort die Sonne und das Atmen das geht so leicht.

Sie macht die Augen auf und Wiesenränder wanken und Bäume kippen, und oben, dort wo die Wiese braun, steht einer. Er winkt. Sie winkt und wankt und fällt und um sie ist alles wiesenweich und Graskitzeln auf den Wangen und sie rollt sich mal hierhin mal dorthin, weil sie vergessen hat, nach welcher Seite es abschüssig ist.

Dann ist Sonne verdunkelt und stattdessen ein Gesicht. „Hast du dir wehgetan?“

Sie rollt sich weiter, damit Sonne wieder auf ihre Wangen kann. Ein Mann mit zusammengebundenem Haarschopf, so alt wie sie. Sein Gesicht rundlich wie ein Hamster. Oder wie eine Fledermaus, weil er einen schwarzen Ledermantel trägt, der ihm bis zu den Stiefeln reicht.

„Flederhamster“, sagt sie. „Wie heißt du?“

„Gerd“, sagt Gerd. „Wir waren doch vorhin …“

Er hebt den rechten Ärmel, ein gestreckter Finger lugt hervor und deutet auf den Hügel. Dorthin, wo der Wald beginnt mit seinen vielen Bäumen. Sie schüttelt den Kopf, streift sich einen Grashalm von der Nase, reibt sich, weil es juckt und sagt: „Dort oben war ich noch nie.“

Sie schaut zu ihm hinauf, und er schaut zum Hügel hinauf.

„Bist du sicher, du warst noch nie dort?“

„Man muss nicht überall gewesen sein“, sagt sie.

Er legt sich neben sie, sein Mantel überlappt ihren ein bisschen. Sein Bauch gewölbt, seine Hände darauf gelegt, die Finger ineinander verschränkt, weiche Finger sind das. Er presst die Lippen zusammen. Sanfte, weiche Lippen sind das. Sie nimmt einen grünen Grashalm und kitzelt ihn an der Nasespitze.


Entstanden im Rahmen der Leonding Akademie für Literatur 10./11. März 2006 mit Robert Schindel.

Schreibaufgabe (1): Eine Geschichte aus der Sicht einer Person zum Thema „Heikle Nähe“. Der Autor bewertet nicht, alles dem Leser überlassen. Nur die Tathandlungen sagen etwas aus. Keine Reflexionen, keine Gedankenströme. Klischees sind tunlichst zu vermeiden.

Schreibaufgabe (2): Dieselbe Geschichte oder die Fortsetzung aus der Sicht einer anderen Person