Lessing hat viel mit meiner Großmutter zu tun, denn wir kamen öfters an seinem Denkmal vorbei, wenn wir in Richtung Eisgeschäft gingen. Eines Tages erzählte sie mir folgende Fabel:
Die blinde Henne
Eine blind gewordene Henne, die des Scharrens gewohnt war, hörte auch blind noch nicht auf, fleißig zu scharren. Was half es der arbeitsamen Närrin? Eine andre sehende Henne, welche ihre zarten Füße schonte, wich nie von ihrer Seite und genoss, ohne zu scharren, die Frucht des Scharrens. Denn sooft die blinde Henne ein Korn aufgescharrt hatte, fraß es die sehende weg. […]
Als meine Großmutter fertig war mit dem Erzählen, weinte sie. Ich sah diesen Lessing an, der keine Augen mehr hatte. Und in seiner rechten Hand … hielt er da etwas von dem Korn oder hatte man ihm alles genommen?
Vor etlichen Jahren hat man das Denkmal auf einen anderen Platz gestellt. Nun liegt es nicht mehr am Weg zum Eisgeschäft sondern steht vor der Praxis meines Urologen. Das ist gut, denn so sehe ich Lessing mindestens einmal im Jahr. Und letztens hatte ich eben zufällig meine Kamera mit dabei und schoss obiges Foto.
PS. Ja, ich habe den Schlusssatz der Fabel verschwiegen. Weil ihn auch meine Großmutter nicht erwähnt hatte. Vielleicht war Lessing wirklich blind gewesen, in gewisser Weise.