(1)
Von all den Männern, die Mama hatte, war ihm Onkel Hans am liebsten. Dominik war sechs, als er ihn kennen lernte. Mama brachte ihn eines Abends heim und sagte: „Das ist Hans. Jetzt ist er dein Onkel.“
„Was ist mit Onkel Franjo?“, fragte Dominik.
Onkel Hans beugte sich herab und streckte Dominik die Hand hin. Eine große Hand war das. Dominik griff nach dem Daumen. Mama ging in die Küche. Onkel Hans stand Dominik gegenüber. Sie schwiegen und schauten einander an. Dann sagte Dominik: „Du bist ja auch dick.“
„Ich bin rund“, sagte Onkel Hans.
Dominik sagte: „In der Schule sagen sie Kugel zu mir.“
Sie schwiegen und schauten eine Weile.
„Du hast einen schönen Pullover“, sagte Dominik.
„Danke.“
„Rot ist meine Lieblingsfarbe“, sagte Dominik.
Mama kam wieder, mit zwei Sektgläsern, und Onkel Hans meinte, Dominik sollte mittrinken. „Spinnst du?“, sagte Mama. Onkel Hans holte ein Sektglas, prickelndes Mineralwasser mit einem Schuss Orange, zu dritt stießen sie an, und Mama lächelte sogar.
Onkel Hans hatte überhaupt keine Haare am Kopf. Sein Nacken war dick und machte am Hinterkopf eine Falte, die aussah wie ein schmaler, langer Mund zwischen den Ohren. Einmal durfte ihm Dominik zwei Augen auf den Hinterkopf malen, und Mama war böse und sagte, das ist peinlich, Hans, wasch dir das Gesicht ab, was sollen die Leute denken. Aber die Augen waren mit Filzstift gemalt, und Filzstift bleibt lange.
Onkel Hans brachte ihm Mühle, Dame und etliche andere Brettspiele bei. Mensch-Ärgere-Dich-Nicht auch, zu zweit war das aber nicht so lustig, und Dominik wollte, dass Mama mitspielte. Für so etwas habe sie keine Zeit, sie müsse kochen, und sie hasse kochen, sagte sie. Onkel Hans kaufte ein Kochbuch, und als Mama wieder einmal nicht daheim war, durfte Dominik eine Seite wählen, das würden sie dann kochen. Dominik öffnete das Buch mit geschlossenen Augen. Hasenjunges. Dominik tat der junge Hase leid, also blätterte er zum Apfelstrudel. Onkel Hans schälte die Äpfel, Dominik schnitt sie in kleine Stücke, Onkel Hans knackte die Nüsse, Dominik rieb sie, Onkel Hans breitete Backpapier auf dem Blech aus, Dominik durfte mit den Fingern in die Butter greifen und das Backpapier einschmieren. Als Mama heim kam, war die Küche geputzt, Zimtgeruch schwebte in allen Zimmern, der Apfelstrudel dampfte auf dem Küchentisch, Mama kostete, jetzt könnt ihr sogar schon selbst kochen, sagte sie, wozu braucht ihr mich denn noch.
Onkel Hans war kein schöner Mann für die Frauen. Vielleicht war ihm das bewusst, und er hatte sich deshalb so viel Mühe gegeben mit Mama. Wenn ihn Mama anschrie, dann zog er den Kopf ein und hatte einen zweiten Mund im Nacken. Wenn Mama weg blieb, eine Nacht oder zwei, dann wurde Dominik von Onkel Hans morgens zur Schule gebracht und mittags von ihm abgeholt. Dominik ließ sich gerne von ihm an der Hand führen. Onkel Hans hatte angenehme Finger: sie waren dick und fest zu gleich. Sie gaben Halt, und solange Dominik seine Hand hielt, konnte ihm nie etwas passieren. Keiner, der ihn auf der Straße niederstieß, keiner der ihm nachrief: Da rollt die fette Kugel. Und wenn jemand fragte: „Ist das dein Vater?“, dann nickte Dominik.
(2)
Dominik öffnet die Tür und betritt das Krankenzimmer und geht zum Bett, das beim Fenster steht. Da liegt ein alter Mann, die Hände auf dem Bauch. Über ihm eine Flasche und ein Plastikschlauch, der im linken Handrücken endet. Unten am Bettgestell eine Flasche, in die es rot tropft.
Der Mann wendet den Kopf.
„Grüß dich, Onkel Hans.“
Der Mann öffnet den Mund. Seine Lippen sind trocken. Er schließt den Mund.
„Ich bin es, der kleine, runde Dominik.“
Onkel Hans hebt die Hand mit dem Plastikschlauch. Sein Kopf ist faltig, wie ein Ballon dem die Luft ausgegangen ist. Dominik setzt sich neben das Bett und legt seine Hand auf Onkel Hans Finger. Sie fühlen sich knochig an.
„Dominik!“
Sie schauen einander an und schweigen eine Weile.
Dominik fragt: „Warum hast du dich nie wieder bei mir gemeldet?“
„Deine Mama hat es mir verboten.“
„Mir hat Mama gesagt, du hast keine Zeit für mich.“
Onkel Hans legt seine Hand auf Dominiks Hand. „Groß bist du geworden“, sagt er. „Dünn bist du. Isst du genug? Einen schönen Anzug hast du. Du kommst direkt von der Arbeit, nicht wahr?“
„Dein Pullover bringt mir immer noch Glück“, sagt Dominik.
„Welcher Pullover?“
Mama hat mit Onkel Hans kurz vor Weihnachten Schluss gemacht. Sein Weihnachtsgeschenk für Dominik hat sie Dominik nicht gegeben. Aber er hat das Paket entdeckt, im Frühjahr. Ein Pullover, genauso rot wie der von Onkel Hans. Dominik hat ihn heimlich getragen, in der Früh in die Schultasche gestopft, damit Mutter nichts merkt, und erst auf der Straße angezogen. In der Schule haben sie gerufen: Jetzt ist die fette Kugel rot! Aber Dominik hat das nichts ausgemacht. Denn das war ein Onkel-Hans-Pullover, der ihn vor allem schützte.
„Was hast du denn gemacht, all die Jahre?“, fragt Dominik.
Onkel Hans wendet den Kopf ab und sagt: „Gearbeitet. Zu viel gearbeitet, sagen die Ärzte. Schaut nicht mehr gut aus, sagen die Ärzte.“
Er greift in die Lade seines Nachtkästchens und zieht ein Foto heraus. Mama, Dominik, Onkel Hans. Er sagt: „Wenn man länger auf das Bild schaut, dann glaubt man, die Mama lächelt.“
„Stimmt“, sagt Dominik nach einer Weile.
Er holt einen Zettel aus der Sakkotasche, zeichnet ein Mühle-Spielbrett darauf, kramt Münzen aus seiner Hosentasche und legt ein Fünf-Cent-Stück auf einen Kreuzungspunkt. So hat er es von Onkel Hans gelernt. Bei Mühle zuerst die Kreuzungspunkte. Onkel Hans richtet sich auf, greift nach einer Zehn-Cent-Münze und platziert sie gegenüber.
(3)
Ein paar Tage später sagt Dominik: „Onkel Hans, wir stehen jetzt auf.“
„Aber wie denn?“ Onkel Hans deutet auf den Beutel, der unten am Bettrahmen hängt und in den rote Flüssigkeit sickert.
„Den nehmen wir mit.“
Onkel Hans setzt sich auf, verharrt eine Weile am Bettrand, mit beiden Händen abgestützt, den Blick gesenkt, seine Füße ertasten die Pantoffel. Dominik hilft ihm beim Aufstehen, trägt den Beutel, Onkel Hans Schritte sind klein, am Fußende seines Bettes hält er sich an und schüttelt den Kopf.
„Es tut mir leid“, sagt er. „Ich kann einfach nicht.“
Er setzt sich an den Bettrand. Dominik zieht einen Filzstift aus seinem Sakko und malt ihm Augen an den Hinterkopf. Nur die Mundfalte, die gibt es nicht mehr, also macht er noch einen Strich.
„Dein Gesicht ist bald wieder rund“, sagt Dominik. „Dann hast du hinten wieder einen richtigen Mund.“
„Das will ich sehen“, sagt Onkel Hans.
Dominik reicht ihm einen Taschenspiegel.
„Hast du einen zweiten Spiegel?“
„Im Badezimmer ist einer.“
Onkel Hans rutscht vom Bettrand, bis seine Füße den Linoleumboden erreichen. Er stellt sich neben das Bett, in der einen Hand der Beutel, mit der anderen hält er sich am Bettgestell fest. Dann lässt Onkel Hans los, und bald ist er im Badezimmer.
(4)
Tags darauf sitzen die beiden vor dem Krankenzimmer am Gang.
Onkel Hans fragt: „Hast du eine Familie?“
„Nein.“
„Aber eine Freundin hast du?“
Dominik sagt nichts.
„Warum nicht?“
Eine Ärztin geht an den beiden vorbei. Mit einer langsamen Bewegung dreht sich Onkel Hans nach ihr um. „Und die? Die ist doch in deinem Alter. Hast du bemerkt, wie sie herschaut? Magst du blond?“
Dominik schüttelt den Kopf. „Mama war blond.“
„Du schaust immer so ernst“, sagt Onkel Hans. „Frauen mögen es, wenn man manchmal lächelt. Schau, so zum Beispiel.“
Onkel Hans lächelt.
„Ja, daran wird es liegen“, sagt Dominik.
Er zieht einen bunten Prospekt aus der Sakkotasche und reicht ihn Onkel Hans. Der klappt den Prospekt auf, mit dem Finger streift er über das glänzende Papier, schaut eine Weile auf das Bild mit dem See, Nachmittagssonne spiegelt sich auf feinen Wellen, matte Bergkonturen ragen in den See, und am Horizont verschwimmen Himmel und Wasser.
„Salzkammergut“, sagt Dominik. „Du solltest es dir gut gehen lassen. Schwimmen, Massage, feines Essen. Zwei Wochen mindestens.“
Onkel Hans runzelt die Stirne, über der Nase eine senkrechte Furche. „Aber ich kann doch hier nicht weg.“
„Gehen kannst du doch schon.“
„Ja, so schau doch, wie weit ich gekommen bin!“ Onkel Hans deutet zur Tür des Krankenzimmers.
„Wir fahren zusammen. Sobald du entlassen wirst, hole ich dich ab.“
Onkel Hans fährt sich mit der Hand über die Stirne. Die Furche ist fort.
„Gemeinsam?“, fragt er.
Dominik nickt. „Wir frühstücken, dann schwimmen wir, nach dem Mittagessen sitzen wir am Seeufer, spielen Mühle und Dame, und für Mensch-Ärgere-Dich-Nicht finden wir uns ein paar Mitspieler.“
„Aber die Ärzte. Die sagen, es schaut gar nicht mehr gut aus.“
Dominik beugt sich zu Onkel Hans und sagt leise: „Weißt du, was man in so einem Fall tut?“
„Hm?“
„Man strengt sich halt ein bisserl an mit dem Gesundwerden.“
(5)
Ein paar Wochen später. Onkel Hans sitzt in der Halle des Krankenhauses, im Mantel, zwischen den Beinen die Reisetasche, in der rechten Hand der bunte Prospekt, abgegriffen und gewellt. Ein Pater kommt herüber und setzt sich neben ihn. „Sie warten auf Dominik, nicht wahr?“
Onkel Hans nickt.
„Ich habe ihn begleitet, seit er hergekommen ist“, sagt der Pater.
Onkel Hans hält den Prospekt jetzt mit beiden Händen.
Der Pater sagt: „Eines Tages hat er Sie hier gesehen. Am Gang. Er hat es mir erzählt und mich gebeten, ich soll ihm helfen. Ich habe bei den Ärzten erreicht, dass sie seinen Venflon vom Handrücken in die Armbeuge versetzen, damit man nichts erkennt. Dominik hat sich jeden Tag den schönen Anzug angezogen, ich habe ihm die Schuhe gebunden, an manchen Nachmittagen habe ich ihn stützen müssen, damit er es zu Ihrem Zimmer schafft.“
Onkel Hans streift mit dem Handrücken über Augen und Wangen.
„Er möchte Sie sehen“, sagt der Pater. Sie fahren hinauf in den fünften Stock, die Reisetasche muss Onkel Hans abstellen, Mantel und Schuhe ausziehen, man reicht ihm einen grünen Umhang und Hausschuhe, ein Pfleger geleitet Onkel Hans durch Glastüren.
Dominik liegt auf einem Bett, nackt, statt des Kopfpolsters ein roter Kinderpullover, um ihn Monitore, Schläuche, über ihm Flaschen, aus denen es in ihn hinein rinnt, unter ihm Flaschen, die sich rot und gelb füllen. Dominik wendet den Kopf, Schläuche straffen sich. Die beiden schauen einander an.
Onkel Hans hebt den Prospekt, damit Dominik ihn sehen kann und sagt: „Jetzt bist du dran. Strengst dich ein bisserl an mit dem Gesundwerden, dann fahren wir.“
Dominik lächelt.