Vor dem Gasthof stellt Rosa ihre Reisetasche ab. Mit einem Taschentuch wischt sie sich die Stirne trocken. Schweiß rinnt von ihren Achseln. Sie stützt sich am Torbogen ab. Der Stein fühlt sich bröselig an.
„Ich werde hinein gehen“, sagt sie.
Sie bückt sich nach der Tasche, die Schulter schmerzt vom Gewicht, sie öffnet die Tür und bückt sich wieder, weil der Torbogen so niedrig ist. Sie schaut sich um. Über ihr rissiges Holzgebälk. Unter ihr Kachelboden. Vor ihr ein Tischchen mit einer Holzfigur: Eine Frau, die Knie zur Brust gehoben, der Kopf nach vor gebeugt, Hände und Oberarme an den Kopf gepresst. Rosa berührt den Rücken der Gekrümmten.
„Sie wünschen?“, sagt jemand.
Rosa erschrickt.
„Sind Sie bei der Gruppe?“, fragt ein Mann.
„Ja.“
„Die Umweltgruppe?“
„Nein.“
„Die Familienaufstellung?“
„Nein, die Schreibgruppe.“
„Welche?“
Rosa nennt den Namen der Literatin.
„Ah, bei der“, sagt der Mann. Und dann: „Wir haben kein Doppelzimmer mehr, das Sie mit jemandem teilen könnten. Nur mehr Einzelzimmer. Ist leider teurer.“
Geld, denkt Rosa. Als wäre das noch wichtig. Der Mann führt sie eine Treppe hinauf, die Reisetasche muss sie tragen. Der Schlüssel, den er ihr in die Hand legt, ist so lang wie ein Suppenlöffel, und das Schloss zu ihrem Zimmer ist älter als Rosas Mutter.
Der Nachmittag ist noch etwas sonnig. Rosa geht im Garten umher und macht Fotos mit ihrem Handy. Vielleicht darf sie die Bilder mitnehmen. Erinnerungen vom letzten Tag. Aber auch das Handy werden sie ihr nehmen. Sie könnte ihren Freund anrufen. Und was sollte sie ihm sagen? Alles? Was könnte er tun? Nichts.
Sie denkt daran, dass sie mit ihm glücklich ist.
Glücklich war.
Eigentlich.
Bei Sonnenuntergang das gemeinsame Abendessen. Die Teller werden aufgefüllt. Jemand sagt Mahlzeit, Rosa greift nach der Gabel. Jemand erzählt Rosa irgendetwas. Rosa legt die Gabel zur Seite. Sie greift sich an den Hinterkopf. Dabei hatte sie noch so viel vor im Leben.
Zum Beispiel.
Dies.
Oder das.
Sie denkt an ihre Schwester. Die mit Haus und Mann, aber nicht an die, die jetzt durch Asien zieht und ab und an Postkarten schreibt, von Orten, die Rosa aus den Nachrichten kennt, wenn es wieder einmal Unruhen dort gibt und sich Mutter Sorgen macht.
Dann die erste Sitzung. Die Literatin kommt in den Saal, unter ihrem Arm ein Stapel Bücher. Feuerrotes Haar mit dunklem Ansatz. Die Literatin schreibt ihren Namen auf das Flip Chart. Malt eine Blume über dem I. Der Filzstift quietscht. Eine Minute lang. Wegen der vielen Blütenblätter. Die Literatin redet über das Ausschmücken von Texten. Weiblichkeit und Fülle in die Literatur bringen. Adjektiven den Raum geben, den sie verdienen. Duftende Sprache, meint sie. Und bunte Wörter. In der Vorstellungsrunde sagt Rosa, dass sie mit dem Schreiben angefangen hat, um sich über Dinge klar zu werden. Die anderen schauen sie an. Draußen klimpert ein Glockenspiel im Wind. Jetzt spricht wieder die Literatin. Die erste Aufgabe. Wir suchen Adjektive, die uns beschreiben. Rosa fragt sich, ob Rot ein Adjektiv ist.
Auch ein Mann ist dabei. Nachher stellt er sich zu Rosa. Sie war elf, als er geboren wurde. Was er denn bei Frauenliteratur zu suchen hätte.
„Ich will einen großen Frauenroman schreiben“, meint er.
Er schaut Rosa an.
„Frauen verstehen?“, fragt sie.
„Ja“, sagt er. „Frauen über dreißig.“
Sie sprechen über Literatur. Dann gehen sie auf sein Zimmer. Sie klettert auf das Hochbett, er stützt sie dabei, mit seiner Hand auf ihrem Po. Kondome? Das ist doch auch schon egal. Aber er hat welche. Er bemüht sich. Er bindet sogar ihr die Augen zu. Er rollt sie auf den Bauch, legt sich auf sie, seine Hände unterfassen ihre Brüste. Sie sagt, du kannst mir richtig wehtun. Er bemüht sich.
Als es vorbei ist, richtet sich Rosa auf, stößt mit dem Kopf an die Zimmerdecke. Sie krümmt sich, zieht den Kopf zum Kinn, umfasst ihren Schädel. Er berührt sie, sie schüttelt sich. Als sie wieder denken kann, nimmt sie die Augenbinde ab, steigt die Leiter hinab, sammelt ihre Sachen ein, geht in ihr Zimmer, wäscht sich das Gesicht. Die Reisetasche gepackt, die Hände in den Schoß gelegt, die Haare aus der Stirn gestreift. Das Fenster offen. Der Wind hat nachgelassen, das Glockenspiel schweigt. Um vier Uhr morgens ist es soweit. Es klopft. Rosa erhebt sich. Zwei Männer.
„Wir sind wegen dem Unfall hier“, sagt der eine.
„Wir sind wegen des Unfalls hier“, sagt der andere. „Gestern Nachmittag.“
Sie gehen die Treppe hinab, vorbei an der Gekrümmten aus Holz, dann durch den steinernen Torbogen hinaus ins Dunkle.
„Ist das ihr Wagen?“, fragt einer. Mit seiner Taschenlampe beleuchtet er die Kühlerhaube. Etwas wird sichtbar.
Entstanden anlässlich der Schreibwerkstatt mit Robert Schindel in Langschlag, September 2005.
Die Aufgabenstellung lautete: Einen Text zum Thema „Tod einer Radfahrerin“ oder „Tod eines Radfahrers“ zu schreiben. Dabei durfte der Tod des Radfahrers nicht expliziert werden (Aussparung). Der Schlusssatz war ebenfalls vorgegeben.