(Dies ist die Fortsetzung von Teil 1)
Der Fürst befiehlt Osobo, seinem zweitgeborenem Sohn, im Wald vor der Siedlung mit den Kriegern in Stellung zu gehen. Der Fürst selbst hetzt sein Pferd vom Hügel hinab, weiter durch den Auwald und den Fluss entlang, bis er das Lager erreicht. Er springt ab und betritt das Fürstenzelt. Dunkelheit. Schweiß und Rauch. Schemenhaft der Hirschenthron mit dem Geweih eines Vierzehnenders. Seine Waffen. Auf einem Tabernakel die tönerne Schale mit dem Birkenrindenschwelteer, erhitzt von einer kleinen Flamme. Auf dem Boden stehen kleine Figuren aus Holz, Stein, Knochen. Der Priester hat sie angeordnet, in jener Konstellation, die er letzte Nacht vom Sternenhimmel abgelesen hat.
Der Fürst geht zur Bettstatt. Dort liegt seine Frau. Die Haarsträhnen kleben auf ihrem Gesicht, er hört sie atmen. Wegen der Dunkelheit kann er ihre Schönheit nicht sehen. Aber spüren, wenn er mit seinen Fingern ihre Augenbrauen nachzeichnet, den Nasenrücken entlang gleitet und ganz sanft am Kinn verharrt. Er hat sich geschworen, das wird die letzte Siedlung sein. Das Plündern und Töten muss ein Ende haben. Hier soll Heimat entstehen. Das Klima ist sanft. Hier soll seine Frau zu Kräften kommen dürfen.
Das Zeltdach lässt an den Nahtstellen Sonnenstrahlen hindurch. Mit dem Fortschreiten des Tages wandern die Sonnenstrahlen, sie kriechen über den Zeltboden hin zur Kranken. Am Nachmittag erhellen die Strahlen sogar das Gesicht der Fürstin. Als wollten sich die Götter überzeugen, dass sie noch immer schön ist.
Als der Fürst seiner Frau mit einem feuchten Tuch die Lippen benetzt, da steht der Priester neben ihm. „Mein Fürst, wir haben ein Problem … die Grabbeigaben …“
Der Fürst zischt: „Die Fürstin weiß nicht, dass es tot ist!“
Der Priester wendet den Kopf ab, schaut zu Boden: „Wir müssen wissen … ob Junge oder Mädchen … wegen der Beigaben.“
Im Zelt des Priesters schaut sich der Fürst das kleine, blutige Ding an. Welche Gliedmaßen könnten als Beine gelten, wo sind die Arme? Er drückt sich die Fäuste gegen die Wangen. Er wankt hinaus, stolpert durch das Lager. Zelte und festgebundenes Vieh. Schweine, Schafe, Rinder, Frauen, Kinder und dann die Alten und die Verwundeten … es ist immer mühsam mit ihnen, wie schnell würde der Fürst vorankommen, bloß mit einem Reiterheer! Aber wie soll das gehen, wenn selbst er ohne seine Frau nicht leben kann?
Eine Handvoll Krieger ist hier unten geblieben. Halbwüchsige. Die gute Truppe ist oben, vor der Siedlung. Frauen hocken am Ufer und waschen Kleidung oder sie flicken die Lederhäute der Zelte. Der Fürst geht an einer Witwe vorbei, sie hält eine Handspindel und zieht Garn aus der Schafswolle und murmelt Gebete. Ihr Sohn ist oben vor der Siedlung. Das Vieh gibt kaum Laute von sich. Die Kinder sind still. Ein Mädchen wirft Holz in das braune Wasser und schaut zu, wie die Äste von der Strömung mitgerissen werden. Bei der Flussüberquerung ist ihr Vater ertrunken.
Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, berichtet man dem Fürsten, dass die Alte immer noch oben vor der Siedlung steht. Immer noch den Stock umkrampft, die Augen geschlossen, den Körper gebeugt. Gelegentlich stöhnt sie, als hätte sie soeben etwas Schweres beiseite gestemmt. Als der Fürst wieder am Lager seiner Frau steht, da ist sie erwacht! Sie erkennt ihn! Sie spricht ihn mit dem Namen an! Mühsam kommt ihre Stimme zwar, aber dass er sie überhaupt hören darf, ist wie ein Geschenk.
Er beugt sich über ihre Lippen, um besser hören können.
„Ist es ein Junge?“, flüstert sie.
„Ja“, antwortet er.
„Das ist schön…“, haucht sie. Dann ein Lächeln in ihrem Gesicht.
Als sie eingeschlafen ist, wankt der Fürst zum Priester und sagt: „Es ist ein Junge.“