Heikle Nähe

(1)

Eine Frau mit blauen Haaren geht über die braune Wiese. Hinter ihr geht Gerd.

„Warum hast du blaue Haare?“, fragt Gerd.

Sie sagt: „Blau ist der Himmel.“

Gerd schaut hinauf. Über ihm die graue Wolkendecke.

„Meine Oma hatte auch blaue Haare“, sagt Gerd. „Das kommt vom Weißfärben. Wenn man die Chemie lange wirken lässt.“

Sie sagt: „Meine Oma ist tot.“

Er fragt: „Hat deine Oma auch blaue Haare?“

Sie sagt: „Meine Oma hat einen schwarzen Grabstein mit goldenen Buchstaben.“

Er sagt: „Alte Leute haben oft blaue Haare.“

Sie ist eine junge Frau. Ihr blaues Haar wirkt willenlos, vom Wind hochgehoben und nach links und nach rechts gelegt, wie Wasserpflazen am Riff, wenn die Flut einsetzt. Sie trägt einen schwarzen Mantel, unten staubig, weil er bei jedem Schritt ihre Stiefel streift. Auf dem Rücken des Mantels eine goldene Jahreszahl. Vorletztes Jahr.

„Früher war ich öfters hier“, sagt sie.

„Hier, wo die Wiese so braun ist?“, fragt Gerd. Dort unten, wo es nicht so steil ist, erstreckt sich eine grüne Wiese und darüber blauer Himmel und die Sonne scheint hell hinunter.

„Mit Vater war ich öfters hier“, sagt sie.

„Dein Vater mag deine blauen Haare nicht“, sagt Gerd.

„Woher weißt du?“

Gerd zuckt mit den Schultern, das kann sie nicht sehen, weil sie vor ihm geht.

„Hier will das Gras nicht wachsen“, sagt sie.

Er sagt nichts.

Sie sagt: „Hier kommt keiner her. Die Leute mögen viel lieber die grüne Wiese.“

„Und den blauen Himmel“, sagt er.

„Früher war die Wiese noch grün“, sagt Gerd.

„Woher weißt du?“, fragt sie.

Gerd zuckt mit den Schultern, das kann sie sehen, denn sie ist stehen geblieben und schaut herüber. Sie stehen am Rand des Waldes. Im Wald sind viele Bäume.

„Hierher kommst du mit deinem Vater?“, fragt Gerd.

„Mein Vater hat einen goldenen Grabstein mit schwarzen Buchstaben.“

„Er ist vorletztes Jahr gestorben?“, sagt er.

„Fick mich“, sagt sie.

„Hä?“ Gerd steckt die Hände in seine Hosentasche.

„Du kannst mir deinen Schwanz auch in den Arsch stecken. Keine Angst.“

Sie reicht ihm ein Kondom.

Gerd atmet, tut aber sonst nichts.

Sie steckt das Kondom in ihre Manteltasche. Sie öffnet ihren Gürtel. Darunter trägt sie einen fettigen, blauen Pullover.

„Hier hört mich keiner Schreien“, sagt sie.

Gerd schaut sich um.

„Du kannst mich auch schlagen.“

Gerd drückt sich die Hände tiefer in die Hosentaschen, presst sich die Ellbogen an die Rippen.

„Wenn du mir die Nase brichst, dann wird sie vielleicht schief und dann muss ich mir die Haare nicht mehr färben, und ich habe ja auch versucht, dicker zu werden, aber ich kann essen was ich will“, sagt sie.

„Ich will nicht“, sagt Gerd.

„Warum nicht? Ich kann gut still halten.“

„Du bist zu hässlich.“

„Wirklich?“ Sie strahlt ihn an, stellt sich zu ihm, und küsst ihn auf die Wange, ohne ihn zu berühren. Gerd schüttelt den Kopf, aber das kann sie nicht mehr sehen, denn sie ist schon fortgelaufen. Er tritt hinaus aus den Wald, schaut den Hügel hinab und beobachtet sie, unten auf der grünen Wiese, mit wehendem Mantel, wie auf und ab läuft, und er denkt sich, wie schön ist sie doch.

(2)

Sie streckt die Arme zur Seite, sie dreht sich, legt den Kopf in den Nacken, schaut hinauf in den Himmel, bald der Frühling da, die Sonne und die Augen geschlossen und nur mehr Wärme auf den Wangen und das streifende Geräusch ihrer Stiefel auf der Wiese und das Summen der Insekten und den ersten Honighauch von den Bäumen geatmet und links wird vorne wird rechts und hinten nur oben bleibt weil von dort die Sonne und das Atmen das geht so leicht.

Sie macht die Augen auf und Wiesenränder wanken und Bäume kippen, und oben, dort wo die Wiese braun, steht einer. Er winkt. Sie winkt und wankt und fällt und um sie ist alles wiesenweich und Graskitzeln auf den Wangen und sie rollt sich mal hierhin mal dorthin, weil sie vergessen hat, nach welcher Seite es abschüssig ist.

Dann ist Sonne verdunkelt und stattdessen ein Gesicht. „Hast du dir wehgetan?“

Sie rollt sich weiter, damit Sonne wieder auf ihre Wangen kann. Ein Mann mit zusammengebundenem Haarschopf, so alt wie sie. Sein Gesicht rundlich wie ein Hamster. Oder wie eine Fledermaus, weil er einen schwarzen Ledermantel trägt, der ihm bis zu den Stiefeln reicht.

„Flederhamster“, sagt sie. „Wie heißt du?“

„Gerd“, sagt Gerd. „Wir waren doch vorhin …“

Er hebt den rechten Ärmel, ein gestreckter Finger lugt hervor und deutet auf den Hügel. Dorthin, wo der Wald beginnt mit seinen vielen Bäumen. Sie schüttelt den Kopf, streift sich einen Grashalm von der Nase, reibt sich, weil es juckt und sagt: „Dort oben war ich noch nie.“

Sie schaut zu ihm hinauf, und er schaut zum Hügel hinauf.

„Bist du sicher, du warst noch nie dort?“

„Man muss nicht überall gewesen sein“, sagt sie.

Er legt sich neben sie, sein Mantel überlappt ihren ein bisschen. Sein Bauch gewölbt, seine Hände darauf gelegt, die Finger ineinander verschränkt, weiche Finger sind das. Er presst die Lippen zusammen. Sanfte, weiche Lippen sind das. Sie nimmt einen grünen Grashalm und kitzelt ihn an der Nasespitze.


Entstanden im Rahmen der Leonding Akademie für Literatur 10./11. März 2006 mit Robert Schindel.

Schreibaufgabe (1): Eine Geschichte aus der Sicht einer Person zum Thema „Heikle Nähe“. Der Autor bewertet nicht, alles dem Leser überlassen. Nur die Tathandlungen sagen etwas aus. Keine Reflexionen, keine Gedankenströme. Klischees sind tunlichst zu vermeiden.

Schreibaufgabe (2): Dieselbe Geschichte oder die Fortsetzung aus der Sicht einer anderen Person

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