Beschreibung des Seminarraums der Leondinger Akademie für Literatur

Sehr geehrte Frau Mutter, weil Sie anfragten, wie es mir hier erginge, will ich Ihnen die Räumlichkeit schildern, in der wir Literaten arbeiten. Es ist ein Dachboden in einem alten Haus. Wände gibt es nur vorne und hinten, sonst zu beiden Seiten bloßes Schrägdach, das oben an der Firstlinie so hoch ist wie drei Mann, die übereinander stehen, der untere, Frau Mutter, muss ein breiter, kräftiger Bursche sein, damit er das Gewicht der beiden anderen stemmen kann, und der oberste, so ein dünner Junge, der kann sich schon mit seinen Handflächen links und rechts abstützen. Die drei können allerdings nicht auf und ab gehen wie sie es vielleicht in der Manege tun, denn hier gibt es Querbalken. Die sind auf Bauchhöhe des mittleren Mannes, viele sind es, bloß einen Schritt voneinander entfernt. Über meinem üblichen Arbeitsplatz in der Mitte des Raumes gibt es einen Querbalken, also Frau Mutter, der ist gefährlich, denn da ragt eine gemeine Schraube heraus, und wenn die drei Männer gerade vor diesem Balken stünden und der Stemmer – Gott bewahre! – etwas nur ins Wanken käme und der mittlere am Holz Halt suchte und die Schraube übersähe, oder stellen Sie sich vor, der Mittlere sähe die Schraube sehr wohl, doch von der wankenden Last auf seinen Schultern vorwärts gedrückt müsste er zusehen, wie die Schraube mit ihrem stumpfen Ende durch den eigenen Nabel gedrückt würde, aber der Mittlere darf nicht nachgeben denn der, den er trägt, ist sein Bruder, und er liebt seinen Bruder, aber die Schraube ist so tief in seinem Bauch, dass er es kaum noch aushält und der unterste, der Stemmer, der spürt, dass es dem über ihm schlecht ergeht, und der über ihm ist sein Bruder und auch er liebt seinen Bruder, er weiß aber nicht, dass sich das Gedärm des geliebten Bruders an der Schraube verhängt hat, also der Stemmer macht das, was er üblicherweise tut, wenn die Kräfte nachlassen: er geht in die Knie.

Werte Mutter, es gibt auch noch eine besondere Türe hier drinnen, sie befindet sich auf Höhe der Querbalken. Würde man unachtsam durch sie hereintreten, man würde so tief fallen wie der oberste der drei Brüder. Aber wenn man vorsichtig ist, dann kann man von dieser Türe mit einem großen Schritt gleich auf dem ersten Querbalken steigen und könnte von Balken zu Balken weitergehen, bis man jenen Balken erreicht, wo die gemeine Schraube herausragt. Und wenn man sich bückt – nur nicht das Gleichgewicht verlieren! – dann kann man den Darm von der Schraube ziehen, damit der Doktor, der unten beim mittleren Bruder kniet, den Darm in den Bauchraum zurückstopfen kann.


Entstanden im Rahmen der Leondinger Akademie für Literatur am 31.5.2006. Die Aufgabe, die Gerd Jonke stellte, lautete: Irgendetwas ist so zu beschreiben, dass es am Ende der Beschreibung als etwas ganz anderes erscheint.

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