Kerstin küsst den Winter

Kerstin öffnet die Augen, bevor Papa sie geweckt hätte. Denn draußen passiert etwas. Etwas weiches, sanftes. Grau ist der Morgen, aber für so etwas Wunderbares braucht es keine Sonne! Der Schnee ist gekommen. Als Papa hereinkommt, um sie zu wecken, steht Kerstin längst am Fenster und drückt die Nase an die Scheibe.

„Hörst du das?“, fragt Kerstin.

„Was denn?“, fragt Papa.

Papa stellt sich hinter sie, legt seine weichen Hände auf ihre Schultern.

„Der Winter ist gekommen“, sagt sie.

Dann Frühstück und Strumpfhose und dicke Hose und dicker Pullover und dicke Jacke und Schal und Haube und Handschuhe und endlich draußen! Schule? Nein, jetzt keine Zeit, jetzt ist Winterzeit! Jetzt muss watteweicher Schnee durchwatet werden, jetzt müssen die Handschuhe fort, damit Flocken auf der Hand landen, frei dahinschmelzen können. Jetzt will sie die Stille hören, die sich mit der weißen Decke über die Stadt legt. Jeden Schritt genießen, denn jeder Schritt hinterlässt eine Spur. Das ist so anders als im Staubsommer.

Sie kommt am Park vorbei, wo Schneepolster auf den Schaukeln bereit liegen. Die Sandkiste ist schon eine Schneekiste, das Holzpferd ein Eisbär, das Holzhaus ein Iglu. Sie öffnet das Tor zum Spielplatz, ein Quietschen wie aus Sommertagen, doch keine Kinder, die ihr den Platz auf der Schaukel streitig machen könnten. Danke, Winter! Sie setzt sich auf ihre Lieblingsschaukel, die Metallkette ist kalt, sehr kalt, das mag sie, und die blöden Handschuhe hat sie ohnehin schon irgendwo am Weg verloren. Sie wippt vor und zurück. Dabei sieht sie auf die Schule gegenüber vom Spielplatz. Ihre Schule. Die Fenster leuchten gelb und drinnen gehen Gestalten auf und ab. Kerstins Lehrerin wird jetzt schon fragen, wo denn die Kerstin geblieben ist. Kerstin knöpft sich den Mantel auf, und der Schal … es ist so frisch, hier kann sie so herrlich atmen, der Winter hat das Leben und die ganze Welt so neu gemacht. Danke, Winter!

Sie will den Winter umarmen und presst sie ihre Lippen an die Metallkette der Schaukel. Das schmeckt nach nicht viel, vielleicht nach Wassereis. Und irgendwann bemerkt Kerstin: die Kette hält ihre Lippen fest. Sie ist angefroren.

Küssen, denkt Kerstin, das schmeckt ein bisschen süßlich, fast wie Blut.


Entstanden am 1.11.2008 in der Texthobel-Schreibwerkstatt für Kinderbuch und Jugendliteratur, geleitet von Saskia Hula. Jugendliteratur folgt ganz anderen Gesetzmäßigkeiten, wie ich von Saskia gelernt habe. Sie meinte zu meinem Text, dass das Ende nicht kinderbuchtauglich sei und ab „Sie will den Winter…“ zu kürzen wäre. Das stimmt, finde ich.

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