Wer ist Frau Binder?

Ich war neunzehn Jahre alt, saß im Hörsaal, und ein Assistent schob die Frau herein.

Der Professor deutete auf sie und fragte uns Studenten: Wie alt schätzten Sie diese Frau?

Ich beugte mich über das Pult, damit ich die Frau gut sehen konnte. Einige Kollegen meinten, sie wäre 25 Jahre alt.

Aber die Haut der Frau war glatt und rosig bei den Brüsten, ganz wie ich es von den Ausschnitten der Debütantinnen kannte, wenn sie einen Ball eröffneten in weißen, bodenlangen Kleidern, sich drehten und leicht verschwitzt dann mit dem Ersterben der Musik aus dem Eröffnungswalzer in einen Knicks  versanken.

Also niemals war sie dermaßen alt! Denn 25, das war ja schon jenseits des zweiten Studienabschnitts, mit 25 war meine Mutter schon Mutter gewesen, nein, die Frau da war nicht älter als jene Damen, die in der Tanzschule den Goldkurs besuchten, da war man 18, vielleicht 19.

Der Professor sagte, dass sie bei einem Zimmerbrand ums Leben gekommen war; teilweise verkohlt lag sie nun auf dem Seziertisch, den der Assistent vorhin wie einen Servierwagen in den Saal geschoben hatte.

Der Professor sagte: „Die Frau war 75 Jahre alt.“

Ein Raunen ging durch die Studentenreihen.

Der Professor erkläre, dass straffe, jugendliche Haut ein übliches Phänomen sei bei Brandopfern, weil sich die faltige Haut straffte, durch den Flüssigkeitsverlust, wie bei einem halbgaren Huhn im Backrohr.