Flammenblütenritual

Pierre Olivier Joseph Coomans: Self-portrait of the painter with his son Oscar

Es war kein leichtes Jahr gewesen, mit meinem Sohn. Seine Wutanfälle waren schlimm geworden. Nicht nur schrie er und wälzte sich auf dem Boden, nicht nur warf er mit Sachen um sich, sondern er stürmte zu mir und trat mich und kratzte mich.

Ich ging zu seiner Volksschullehrerin. Die sagte mir, er sei ein angepasstes, schüchternes Kind. Ja, er würde mit den anderen Kindern spielen, aber nicht allzu lange. Schreiben und Rechnen seien für ihn kein Problem. Er wird nur ungeduldig, wenn er sich langweilt, weil andere nicht so schnell im Denken sind wie er. Dann schaute mich die Lehrerin an, ihr fielen meine Unterarme auf, und sie fragte, ob ich eine Katze daheim hätte. Ich lachte auf. Denn sie spielte sicherlich auf die verkrusteten Kratzspuren an. Ich erklärte: diese Wunden stammten von meinem Sohn, Wutausbruch, als er mich trat und und kratzte und seine Brille auf den Boden schleuderte.

Sie sagte: „Ein Haustier, das könnte helfen.“

Darum also, als ich meinen Sohn von der Schule abholte, da wartete daheim schon ein Meerschwein auf ihn, in einem Käfig auf einer Plastikwanne. Zuerst dachte ich, er wird dem Meerschwein etwas antun. Darum hatte ich mich gegen eine Katze entschieden, die musste man zum Tierarzt bringen, sondern ein Meerschwein, ohnehin mit geringer Lebenserwartung. Aber mein Sohn beugte sich über den Käfig, fragte gleich, was das Meerschwein denn so fraß und ob er ihm einen Namen geben konnte. Er nannte es Lea. Lea hatte auch seine Mutter geheißen. Lea war ein Männchen, darauf hatte ich beim Kauf bestanden, denn ich wollte keine Zucht aufbauen.

Von da an waren mein Sohn und Lea ein Herz und eine Seele. Er fütterte Lea, er streichelte Lea. Wenn er sich nach der Schule bei ihrem Käfig hin kniete, dann – man glaubte es nicht! – dann, ja wirklich! – dann lächelte er. Er ließ Lea im Wohnzimmer  herumlaufen – aber Lea lief nicht, Lea saß immer nur dort, wo man Lea hinsetzte – außer, Lea sah Salat oder Körner, dann machte Lea ein paar schnelle Schritte. Jeden Tag reinigte mein Sohn den Käfig, neues Gras, neuer Spreu. Gemeinsam bauten wir Lea ein Haus aus dünnen Holzplatten mit meiner Laubsäge und – und seine Wut … das letzte Mal warf er ein Glas zu Boden – er war aber dann so besorgt, dass ein Splitter Lea verletzen konnte, dass er alles saubermachte und auf dem Boden umherkroch, auf der Suche nach Splittern unter der Heizung. Seither kein Kratzen, kein Beißen, kein Werfen. Er lud sogar Klassenkameraden ein, uns zu besuchen, und so lerne ich andere Eltern kennen, und ich freute mich, dass alles endlich gut war und das Jahr gut enden würde.

Und es endete gut, so dass ich mit meinem Sohn nach Weihnachten nach Lysara flog, ans Meer, zum Flammenblütenritual. Natürlich musste Lea mit, und weil Kleintiere nicht im Handgepäck mitreisen durften, brauchte es eine eigene Box und Formulare beim Check-In. Mein Sohn war besorgt, ob es nicht zu kalt war im Bauch des Flugzeugs, oder der Luftdruck zu gering, oder ungenügend Sauerstoff, und dass Lea ja genug zu essen und zu trinken hatte. Er war erst wieder glücklich, als wir gelandet waren. Der Flughafen von Lysara war kaum größer als ein steirischer Bahnhof, und hier bekam mein Sohn von einer netten Dame die Spezialbox mit Lea ausgehändigt.

Das Hotel mit seinen hellen Räumen und dem direkten Zugang zum Sandstrand tat uns gut, ein schwieriges Jahr hatte also eine gute Wendung genommen. Lea durfte gar im Hotelrestaurant dabei sein, das Tier fiel ja ohnehin nicht auf, weil es sich nur zum Fressen bewegte.

Ich hatte die Küstenstadt Lysara gewählt, weil ich das jährliche Flammenblütenritual in angenehmer Erinnerung hatte. Der Brauch ging auf eine Legende zurück, in der die Götter des Meeres und der Sterne den Menschen leuchtende Blumen schenkten, um ihnen Mut und Hoffnung für die kommenden Tage zu geben. So hatte ich es meinem Sohn erklärt, und er beteiligte sich mit aller Freude an der Vorbereitung, wo die Bewohner und Touristen aufbrachen, um natürliche Materialien wie getrocknete Algen, Treibholz und kleine Muscheln zu sammeln, die später für die Dekoration der Flammenblüten verwendet werden. Jede Großfamilie von Lysara gestaltete ihre eigene „Flammenblüte“ – so kunstvoll waren manchen Laternen, wie glänzende, bunte Blumen, und sie wurden alle am Strand aufgestellt, um sie zu bewundern.

Diese Flammenblüten symbolisierten die Zerbrechlichkeit und Schönheit des Lebens. Das gemeinsame Loslassen, das zum Jahreswechsel stattfinden würde, stand für den Glauben an einen Neuanfang und die Kraft der Gemeinschaft.

Die netten Leute vom Hotel halfen uns natürlich, damit die Flammenblüten von uns Touristen nicht allzu stümperhaft wirkten. Jeder Laterne wurde ein Kästchen beigelegt, das eine persönliche Botschaft oder ein Symbol enthielt – für Wünsche und Hoffnungen für das kommende Jahr.

Zu Silvester also, umkränzt von Feuerwerken, begann das Loslassen: da wurden die Fackeln entzündet und die Flammenblüten auf das Meer gesetzt. Schnell, bevor unsere Flammenblüte von der Strömung erfasst wurde, watete mein Sohn durch das flache Wasser hin, öffnete das Kästchen für die Botschaft und setzte Lea hinein.

Die Laternen trieben nun mit der Strömung hinaus und symbolisierten die Träume und Wünsche, die von den Göttern der Wellen getragen werden. Die Leute vom Hotel sagten uns, dass je länger die Flammen einer Blüte sichtbar blieben, desto größer sei die Chance, dass sich der Wunsch erfülle.

Und so schauten wir in der Dunkelheit unserer Flammenblüte nach, die gemeinsam mit anderen Flammenblüten auf und ab schaukelte. Natürlich wollte ich wissen, weshalb mein Sohn Lea auf die Flammenblüte gesetzt hatte.

Er sagte: „Der Gedanke war cool. Außerdem: Lea ist ein Meerschwein. Meer – Schwein? Du verstehst?“

Mein Sohn kicherte. Meer-Schwein. Vielleicht war das der erste Wortwitz seit dem Tod seiner Mutter.

Und dann fragte ich: „Und was hast du dir gewünscht?“

„Dass Lea nicht zu sehr leidet. Ich hab sie gern.“

Ich legte meine Hand auf seine Schulter, er schmiegte sich an mich. Wir schauten aufs Meer. Es war ein friedlicher Vater-und-Sohn-Moment; wir beobachteten die Flammenblüten, die als entfernte Lichtpunkte von den Wellen auf- und abgehoben wurden; ab und an verglühte so ein Lichtlein.

Dann fragte mein Sohn: „Darf ich wieder ein Haustier haben?“

„Was für ein Tier denn?“, sagte ich.

„Eine Katze diesmal.“

„Eine Katze“, sagte ich.

„Und nächstes Jahr, da fahren wir drei wieder hierher, ja?“, sagte er.

„Na klar“, sagte ich.

Wir schauten noch lange aufs Meer, auch als alle Lichter schon verloschen waren.