Hänsel sitzt in einem schmucklosen Büro. Gegenüber, hinter dem Schreibtisch, sitzt Frau Bezirksinspektor Wolf. Sie sagt: „Sie haben viel durchgemacht, nicht wahr?“
Hänsel nickt. Tränen kleben an seiner verdreckten Wangenhaut.
„Rauchen Sie?“, fragt sie.
Wolf hält Hänsel eine Packung Marlboro hin. Hänsel nimmt eine Zigarette heraus, Wolf gibt ihm Feuer. Hänsel macht einen tiefen Zug.
„Gehts schon besser?“, fragt sie.
Hänsel nickt.
„Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben. Wir wollen die Verbrechen der Hexe aufklären. Und brauchen da noch Ihre Hilfe.“
„Gerne“, sagt Hänsel.
„Sie leben in großer Not, stimmt das?“
Er nickt. Er macht einen festen Zug aus der Zigarette.
Frau Bezirksinspektor Wolf sagt: „Und Ihre Mutter hat Ihren Vater überredet, Sie und Ihre Schwester Gretel im Wald auszusetzen.“
„Nein, die ist nicht meine Mutter! Die ist meine Stiefmutter!“
„Also, ich habe hier die Dokumente aus dem Jahre 1812, danach es ihre leibliche Mutter …“
Er kreischt. „Nein! Die freckige Hotze ist nicht eine Mutter! Meine Mutter ist eine Heilige, die würde uns das nie antun!“.
Hänsel dämpft energisch die Zigarette in einem Aschenbecher aus.
„Ist ja schon gut, habe verstanden“, sagt Wolf. Sie macht Notizen auf einem Papierbogen und streicht dann das Wort „Mutter“ durch.
Sie sagt: „Sie haben folgendes zu Protokoll gegeben: Ihr Vater habe Sie und Ihre Schwester in den Wald geführt und sie beide alleine zurück gelassen.“
„Ja!“, ruft Hänsel. „Aber ich hab Steine dabei gehabt, ich hab eine Spur gelegt, so hab ich nach Hause gefunden.“
Er grinst.
Sie sagt: „Unsere Spurensicherer haben den Wald durchkämmt, keine Spur von weißen Steinen!“
„Die hatten wir wieder aufgesammelt auf unseren Weg heim.“
Frau Bezirksinspektor Wolf sagt: „Sie haben weiters ausgesagt, dass Ihr Vater Sie nochmals ausgesetzt habe, aber diesmal haben Sie eine Scheibe Brot dabei gehabt, die haben Sie zerbröckelt, um eine Spur zu legen. Die wurde jedoch von Vögeln aufgepickt. Dadurch fanden Sie nicht mehr nach Hause.“
Hänsel seufzt. Und nickt.
Frau Bezirksinspektor Wolf fragt: „Sie leben in einer hungergeplagten Not. Da ist Brot etwas sehr wertvolles, nicht wahr?“
Hänsel nickt.
„Wie kommen Sie dann dazu, ein Brot zu zerbröseln und wegzuwerfen?“
„Wir haben keine Steine gehabt!“
Sie sagt: „Aber Sie haben die Steine doch eingesammelt!“
„Wir haben die Steine weggeworfen.“
Sie kritzelt das Wort „Weggeworfen“ auf einen Bogen Papier.
Sie sagt: „Und die Vögel fressen Ihre die Brotkrümel – und das Hexenhaus aus Zucker fressen sie auch?“
Hänsel sagt: „Wie meinen Sie das?“
„Wir haben nämlich kein Hexenhaus gefunden. Wie lange waren Sie beide im Wald?“
„Einen Sommer lang.“
Sie fragt: „Sie hatten es nicht so eilig, aus dem Wald rauszukommen, oder?“
„Ich verstehe nicht“, sagt er.
„Schauen Sie, Herr Hänsel. Wir haben eine Feuerstelle gefunden, und eine einfache Hütte. Und ein Seil. Das hing zwischen zwei Bäumen. Und auf dem Seil hingen Unterkiefer, aufgereiht wie Perlen.“
Frau Bezirksinspektor Wolf hebt die Hände und berührt mit ihren Zeigefingerspitzen seitlich ihr Kinn. „In jedem Unterkiefer gibt es zwei Kinnlöcher. Jemand hat mit einem spitzen Gegenstand die Löcher aufgebrochen, damit das Seil durchpasst.“
„Es war die Hexe, die alte Menschenfresserin! Ich sagt die Wahrheit! Fragen Sie Gretel!“, ruft Hänsel.
„Ja, zu Gretel habe ich auch eine Frage. Wie ist Ihre Beziehung zu Gretel?“
„Sie ist meine Schwester, das wissen Sie doch! Sie ist der einzige Mensch, der es gut mit mir meint.“
Frau Bezirksinspektor Wolf verschränkt die Arme und sagt: „Und darum haben Sie Gretel geschwängert, im Wald?“