Eine kurze Geschichte über das Vergessen

Und gerade als wir rund um den Weihnachtsbaum standen, als sich meine Frau an mich schmiegte, als wir unsere Kinder beobachteten, die sie sich über die Geschenke hermachten, als ich also neben ihr stand, meinen Arm auf ihre Schulter legte, da rutschte mir die Hose ein Stückchen hinunter. 

Und mir schoss es ein: ich hatte meinen Gürtel vergessen.

Ich umarmte meine Frau weiterhin, versuchte keine abrupte Bewegung zu machen, denn jetzt musste ich nachdenken. Ich brauchte einen Vorwand, um jetzt loszufahren.

Am besten mit Offenheit. Ich sagte meiner Frau: “Mir ist etwas peinliches passiert.”

“Was denn?”

Ich sagte ihr, dass ich ihr Geburtstagsgeschenk an der Tankstelle liegen gelassen hatte.   

“Aber wir haben Weihnachten”, sagte sie.

“Ich meine dein Weihnachtsgeschenk, ich bin ganz durcheinander”, sagte ich. “Ich glaube, ich weiß, wo es ist. Ich würde das jetzt holen, damit es nicht jemand anderer mitgehen lässt.”

Einen schnellen Ehekrach später (“Das ist nicht dein Ernst, dass du jetzt wegfährst und mich mit den Kindern hier zurücklässt!”) saß ich im Auto und hatte keine Ahnung, was für ein Weihnachtsgeschenk ich meiner Frau nun mitbringen sollte, aber das war nur ein unbedeutendes Problem jetzt. 

Ich fuhr eine halbe Stunde durch die Nacht, kurvte durch Ortschaften, und bei einem bestimmten Haus fuhr ich vorbei. Denn es hätte ja sein können, dass Licht brannte. Es brannte aber keines. 

Also parkte ich, aber nicht allzu nahe. Ich ging durch das Dunkle, das Kalte, den Blick erhoben, ob da nicht doch etwas war. Ich zog mir die Golfhandschuhe an. Ich horchte nochmals. Aber es war nichts. Ich betrat den Garten, ich ging um das Haus und im Kellerfenster stieg ich ein, mit dem Licht einer kleinen Taschenlampe. Ich schlich die Treppe empor, öffnete die Tür zum Vorraum – eine kleine Bewegung, wie eine Katze, Atem anhalten, hören, ob da jemand – nein, nichts. 

Ich ging weiter ins Schlafzimmer. Ich knipste das Licht an. Licht war gar nicht so schlecht, die Nachbarn durften wohl sehen, dass jemand da war, dass alles in Ordnung war. Denn Anna war ja auch hier. Bäuchlings lag sie auf dem Bett. Um ihren Hals ein Gürtel. Mein Gürtel. Ich zog ihn ab, schnallte ihn mir an die Hose. Wie konnte ich so blöd gewesen sein. Der Gürtel begleitete mich schon jahrelang und hatte weißgott welche Spuren an sich. Da sah ich an Annas Nacken die Halskette. Ja, das wäre eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk. Ich nahm Anna die Kette ab.

(Epilog)

Aber das war aber nichts ohne Geschenkpapier. 

Ich ging ins Wohnzimmer, und es roch immer noch nach Zimt. Es roch auch nach Urin. Ich nahm das größte Geschenk, schälte es vorsichtig aus dem Papier, damit nichts riss. Es war ein Puppenhaus. Aber mir ging es ja nur um das Papier. Ich packte die Kette ein, und als ich fertig war, da fuhr mir wieder eine Gedanke ein: Ein Puppenhaus war für ein Mädchen, sicherlich. Aber die Kinder dieser Anna, das waren doch zwei Jungs, oder? Oder irrte ich mich? Also zog ich den beiden Leichen die Plastiksäcke von den Köpfen. Eindeutig, das waren zwei Jungs. Mir kam ein Verdacht. Dass es noch ein Kind gab. Ein Mädchen, das hatte sich irgendwo noch versteckte. Oh ja, Kinder konnten so zäh sein!

Ich rief mit verstellte Stimme: “Polizei! Ist hier jemand?”

Dann war mir, als hörte ich etwas, von oben. Ich nahm meinen Gürtel ab und und stieg die Treppe empor in den ersten Stock. Nachher würde ich mich unbedingt duschen müssen, meine Frau hatte ja eine gute Nase.

Als ich endlich daheim war, bedankte sich meine Frau für die Kette, meine Tochter für das Puppenhaus, und mein Sohn, der war ohnehin in seinem Zimmer. Ich umarmte meine Frau und merkte, dass meine Hose ein wenig hinab rutschte. Ich hatte meinen Gürtel vergessen.

Ein Gedanke zu „Eine kurze Geschichte über das Vergessen“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert