Ein Polizist erleidet neben seinem Auto einen Herzinfarkt. Lee Child beschreibt das aus der Sicht des Sterbenden. Frei von Pathos und Selbstmitleid. So kommen mir die Menschen vor bei Lee Child: Sie sind alle beschäftigt mit Dingen, mit anderen Menschen, mit konkreten Handlungen wie Autofahren. Sie denken nicht weiter als es die Gegenwart absolut nötig macht. Das hat für mich eine Schönheit.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz seine Schultern. Und seine Arme. Fast wie Sodbrennen. Aber doch kein Sodbrennen, weil er nichts gegessen hatte. Er bekam keine Luft mehr. Konnte sich nicht bewegen. Seine Brust schnürte sich zusammen. Seine Knie gaben nach. Er rutschte den glatten Kotflügel entlang zu Boden. Einen Augenblick blieb er in der Hocke, spürte den oberen Rand des Radkastens in seinem Rücken. Er konnte den Reifengummi riechen. Er konnte den Regen riechen. Seine Arme ließen sich nicht mehr bewegen. Er kippte zur Seite, blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen, sah schwarze Wolken über sich. Er spürte Regen auf dem Gesicht. Seine Brust wurde wie von einem Riesengewicht zusammengedrückt. Wie vor vielen Jahren einmal im Sportstudio, als er nach einer Unaufmerksamkeit seines Trainingspartners mit einer Hundertkilohantel über dem Brustkorb auf dem Rücken gelegen und nicht mal um Hilfe hatte rufen können. Das konnte er auch jetzt nicht. Er hatte keine Luft in der Lunge. Konnte sich nicht bewegen. Kämpfte eine Minute lang; dann gab er auf, weil er plötzlich mit eigentümlicher Gewissheit wusste, dass er sich nie mehr bewegen würde.
Er entspannte sich.
Seine Arme und Beine wurden ganz gefühllos. Als existierten sie gar nicht. Das war interessant. Er starb von den Extremitäten aus nach innen. Sein Körper arbeitete im Eiltempo eine Liste ab, gab ein nicht lebensnotwendiges Organ nach dem anderen auf. Der Organismus eines hochentwickelten Säugetiers war so programmiert, dass er seine Zentralfunktion möglichst lange aufrechterhielt, dass er diese Zentralfunktion von Sekunde zu Sekunde skrupelloser definierte. Beine? Wer braucht die? Arme? Wozu? Nur das Gehirn zählte. Das Gehirn würde zuletzt sterben.
Vier Minuten, dachte er. Diese Zahl fiel ihm ein. Er erinnerte sich an seine Ausbildung. Wenn Leute ertranken oder Kinder an Spielzeug erstickten, hatte man nach dem Herzstillstand noch vier Minuten Zeit. Er spürte sein Leben nach innen und oben in seinen Kopf zurückweichen. Mehr war er nun nicht mehr. Ein Kopf. Ein Gehirn. Sonst nichts. Mehr war er nie gewesen. Mehr war kein Mensch. Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Schmerzen hatte er keine mehr. Er war nur mehr ein körperloses Gehirn. Wie in einem SF-Roman. Wie ein Marsmensch. Wie ein Alien. Sehen konnte er noch, aber sein Gesichtsfeld wurde an den Rändern dunkler. Wie bei einem alten Fernseher. Genau das würde jetzt passieren. Endlich verstand er alles. Die große Frage war beantwortet. Das große Geheimnis gelöst. Er würde abschalten wie ein alter Schwarz-Weiß-Fernseher: zu einem winzigen Lichtpunkt implodieren, der in der Bildschirmmitte hell brannte, bevor er dunkler wurde und dann endgültig erlosch.