Kritik am Handwerk eines Autors

In einem Krimi las ich folgende Stelle:

[Er] war ein kränklicher Mann von kleinem Wuchs; er war Beamter in irgendeiner Behörde, war geradezu auffallend blond und hatte einen kurzen Backenbart, auf den er sehr stolz war. Überdies schmerzten ihn fast ständig die Augen. Sein Herz war ziemlich weich, doch seine Rede höchst selbstsicher und manchmal geradezu anmaßend – was im Verein mit seiner zarten Gestalt fast immer lächerlich wirkte.

  1. Der Autor wertet, anstatt zu zeigen (vergleiche dazu: Show, don’t tell): Es wird gesagt, dass der Mann klein sei, ohne zu zeigen, wie groß er nun ist; der Mann wirkt lächerlich, aber dem dem Leser wird keine die Möglichkeit gegeben, diese Lächerlichkeit zu erleben. Der Autor schreibt vor, was der Leser empfinden soll (Regieanweisung).
  2. Viele Adjektive: Statt „geradezu auffallend blond“ würde eine „auffallend blond“ genügen – denn was ist der Unterschied zwischen „geradezu auffallend“ und „auffallend“? (Robert Schindel nennt diese überflüssigen Worte „Füllselworte“) Wie darf ich mir einen „geradezu auffallend blonden“ Mann vorstellen? Rotstichig? Albinohaft? Der Autor hätte mir das vermitteln können.
  3. Übertreibungen haben den gegenteiligen Effekt: „selbstsicher“ wirkt beim Leser stärker als „höchst selbstsicher“, und „sehr stolz“ schmälert den „stolz“.
  4. Übertreibungen, die durch ein Adjektiv relativiert werden: Was bedeutet „fast ständig“? Ein „ständig“ mit einem „fast“ zu mindern, solche sprachlichen Hakenschläge stumpfen ab; hier würde ein „oft“ wohl genügen. Ähnlich bei „fast immer lächerlich“, da täte es ein „lächerlich“; denn die Zeitraumbeschreibung „fast immer“ bringt den Leser (gefühlsmäßig) nicht näher an den beschriebenen Mann.
  5. Literarische Ungerechtigkeit: Einen Mann gleich von Anfang an als lächerlich zu werten widerspricht dem Prinzip der erzählerischen Gerechtigkeit, wie sie etwa von Robert Schindel eingefordert wird.

Der Autor, so scheint es mir, wollte sich nicht die Arbeit antun, dem Leser zu vermitteln, was er sieht – der Leser erfährt bloß die Zusammenfassung, die Schlussfolgerungen. Dem Leser wird hier keine Chance gelassen, sich selbst ein Bild zu machen.

Welchem Krimi ich diese Stelle wohl entnommen habe?

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