Mehr Arbeit ist es, so scheint es, mich und das Projekt in jenen Zustand zu bringen, in dem das Schreiben fließt. Doch wenn es dann wie von selbst läuft, dann ist das tiefes Glück.
Letztes also schrieb ich:
Autobiographie eines Raubtiers
Roman
Was ich nach dem Orchideenball beobachtet hatte, vor 20 Jahren, ist vielleicht ein gutes Beispiel für die Wandlung, die ich meine. Gegen drei Uhr morgens ließ ich mir an der Garderobe Mantel und Schal reichen und ging hinaus auf den Heldenplatz, wo schon die Taxis in langer Reihe auf die Ballgäste warteten. Ich wollte aber noch etwas spazieren, das Treiben und Tanzen der letzten Stunden abklingen lassen, und herrlich klar war diese Nacht. Ich schlenderte in das Innere der Hofburg, angenehm ruhig war es jetzt um mich. Die einzigen Geräusche kamen von meinen Schritten auf dem Kopfsteinpflaster. Ich durchquerte das Schweizer Tor und kam in den Burghof mit dem steinernen Brunnen, wo oben, hinter warmgelbhellen Fenstern, sich die letzten Ballgäste tummelten, vielleicht schon müde, eine Pause noch, und dann zum letzten Walzer … Mein Atem war wolkig, die Nacht kalt, meine Wangen warm, mein Kopf klar, und ich stand inmitten dieser Stille, im Herzen der Millionenstadt streckte. Dann hörte ich ungelenke Schritte, erst dachte ich an eine Frau, die mit hochhackigen Schuhen lief, aber es war ein Reh. Es lief durch das Schweizertor und schlitterte mit seinen Hufen auf dem glatten Stein. Jetzt stand es vor mir. Es starrte mich an, ich sah es atmen, der Hauch vor seinen Nüstern, der pulsierende Brustkorb, die Ohren, die nach Gefahr lauschten. Es war dieser Blick, und ich bin heute immer noch nicht imstande, für diesen Blick die passenden Worte zu finden, für diese Mischung aus Erstaunen und Furcht. Und alles war schemenhaft in diesem Hof – und dann floh das Tier, seine Hufe haltlos auf den Pflastersteinen zwischen seinen Sprüngen, wie im Alptraum, wo man fliehen mochte, aber man kam nicht voran. Und ein Mann rannte hinterher, an mir vorbei, seine Schritte in Stiefeln, er trug eine grüne Jacke und Hut, und in beiden Händen hielt er vor sich ein Gewehr. Als sich die Schritte und die Hufe in Stille aufgelöst hatten, atmete ich ein. Den Schuss hörte ich beim Ausatmen. Ich lief hinterher, bis auf den Josefsplatz, und schaute mich um. Menschenleer und autofrei, matte Lichtkegel, und in der Mitte das Denkmal des Kaisers auf seinem Pferd. Dorthin ging ich, und auf einer Marmorstufe schimmerte etwas, das wie Wasser glänzte und nach Blut roch.
Ich schreibe das hier, weil ich die Wandlung aufspüren will, die den Krieg gebracht hat. Ich meine nicht die Ereignisse rund um die ersten Toten – das ist Aufgabe der Geschichtsschreiber und Kriegsreporter. Die wirkliche Wandlung musste weit früher passiert sein, unbemerkt von Radfahrern auf der Donauinsel, von Touristen im Riesenrad und von Joggern im Wienerwald. Ich will die Anzeichen dingfest machen. Nicht für mich, sondern für die Generation, die nach all dem Töten unsere Stadt wieder zusammensetzen wird. Damit wenigstens einige gewarnt sind, wenn sich die Geschichte wiederholt.