Letztens überraschte mich folgende E-Mail:
Hi..
Ähm, ja. Ich bin D. und eigentlich habe ich gar keine Ahnung, warum ich ausgerechnet Ihnen schreibe, aber ich habe grade einen Tiefpunkt erreicht, fürchte ich. Ich bin so beim surfen auf ihren Blog gestoßen und hatte das Gefühl, dass Sie mich vielleicht irgendwie nachvollziehen könnten. Ich bin erst 16, aber ich schreibe schon seit ich ein kleines Kind bin Geschichten. Aber seit den letzten fünf Jahren ist das nicht mehr nur ein Hobby, sondern eher ein Teil von mir geworden.
Ohne das Schreiben fühle ich mich, als würde ich all das, was ich nicht festhalte, loslassen und … verlieren?
Verstehen Sie das?
Wie gesagt, ich komme mir grade etwas doof vor, weil sie sicherlich anderes zu tun haben, als 16jährigen Kindern zu antworten … Tatsache ist, dass nichts mehr geht. Ich bekomme nichts mehr hin! Also, dass ist eigentlich falsch. Sagen wir es so: Ich bekomme nichts von dem hin, was mir wirklich wichtig ist. Schule und so ist alles ganz klasse, helfe auch Zuhause im Haushalt mit, und meine Eltern sind zufrieden. Aber trotzdem. Es macht mich ganz kirre! Ich habe so kurzfristig tolle Ideen, dann schreibe ich 20 Seiten, dann finde ich alles kacke und lösche meine Texte. So kann das doch nicht weiter gehen…? Da habe ich schon so verschissen viel gekellnert, mich von meiner Chefin zur Schnecke machen lassen, um genug Geld für ein Netbook beisammen zu bekommen, da klappt trotzdem nichts. Können Sie mir sagen, warum das alles nicht funktionieren kann?
Vielleicht bin ich einfach nicht dazu gemacht. Wissen Sie, ich kann mich sowieso niemals entscheiden. Ich würde so gerne etwas im Bereich Film studieren und Bücher schreiben. Reisen. Aber wie oft bekommt man gesagt, dass soetwas nur Wunschdenken ist!? Soll ich das glauben? Ich wollte doch nie als langweiliger Mensch enden, der seine Träume nicht verwirklicht hat. Aber ist scheitern nicht vorprogrammiert? Heiliger, ich bin so hin und her gerissen.
Und nochmal: Ich kann verstehen, wenn sie das nicht interressiert. Normalerweise bequatsche ich Leute auch nicht mit sowas. Wenn sie nicht antworten wollen, werde ich auch nicht daran sterben, aber es wäre vielleicht doch schön zu wissen, was sie darüber denken. Jemand, der mich nicht kennt.. Und falls sie tatsächlich antworten sollten: Seien sie ehrlich. Ich bin nicht so empfindlich, als dass ich mich aufhängen würde, wenn mir jemand etwas sagt, was ich nicht hören will.
Das einzige was ich will, ist etwas eigenes zu erfinden -lebendig machen- und die Menschen damit zu berühren. Der Welt etwas Neues schenken, etwas von mir.
Verstehen Sie das?
Liebe D.,
ich verstehe dich sehr gut. Du bringst so gut auf den Punkt, wie es mir auch ergeht: „Ohne das Schreiben fühle ich mich, als würde ich all das, was ich nicht festhalte, loslassen und .. verlieren?“
Darum: Alles ist gut.
Was du erlebst, ist Teil des Gesamtpakets. Das Paket, das dir geschenkt wurde, ist sehr groß und sehr schön. Das Schwierige daran ist, dass nur wenige Menschen so ein Paket bekommen haben und es daher wenig Vorbilder gibt, wie damit umzugehen ist.
Alles ist gut.
Die Widerstände, die du spürst, stammen Großteils von Gedanken/Zielen, die von außen kommen.
Der nächste Schritt ist, es fließen zu lassen.
Zu deiner Frage „Können Sie mir sagen, warum das alles nicht funktionieren kann?“ – Was würde dir eine Antwort auf diese Frage helfen? Es geht nicht darum, herauszufinden, warum etwas NICHT funktioniert, es gilt herauszufinden, was bereits funktioniert oder was funktionieren kann.
Ich habe bei dir herausgehört, dass ein Text, der kein Buch ist, nicht zählt. Nun. Hemingway’s berühmte Geschichten waren alle sehr, sehr kurz. Für alles gibt es stets ein griffiges Gegenbeispiel. Alles kann wahr sein.
Ich habe ein paar Punkte zusammengeschrieben – probier‘ vielleicht das eine oder andere aus! Finde heraus, was bei dir funktioniert!
- Schreibe unperfekt
- Denke dir: die Ziele anderer sind nicht deine Ziele – denn du bist nicht sie.
- Wenn du etwas nicht schreiben kannst, schreibe darüber, wie es dir damit geht, dass du es nicht kannst.
- Schreib das Tagebuch einer fiktiven Person – sie ist etwa so alt wie du, und sie lebt etwa wie du und schreibt wie du – und ihr hänge all die Geschichten/Versuche um. Lass dieses Tagebuch Stückwerk sein, lass den Leser selbst herausfinden, wer dieser Mensch ist. Da es eine fiktive Person ist, bist du drei, rücksichtlos alles zu schreiben und Selbsterlebtes mit Erfundenem bunt zu mischen. Lass dieses fiktive Tagebuch ein Ort sein, wo alles hineinkommt. Es findet schon seinen Platz.
- Suche Kontakt zu anderen Schreibenden.
- Denke dir: Auch das schmutzigste Wasser treibt die Mühle
- Denke dir: Bei allem, was über das Schreiben gesagt wird, kann auch das Gegenteil wahr sein.
- Lösche nie etwas, was du geschrieben hast. Denn es kann das Material sein, aus dem du Neues formst.
- Zum Schreiben brauchst du keinen Netbook. Papier und Kuli reichen.
- Schreibe.
- Schreibe.
- Wenn dir etwas Geschriebenes nicht passt, dann denk dir: Ich kann es später immer noch überarbeiten.
- Suche nicht nach einen Anfang. Beginne mittendrin.
- Besuche eine Schreibwerkstatt (so findest du Kontakt zu anderen Schreibenden).
- Versuche nichts – schreibe einfach.
- Schreibe.
- Wenn du glaubst zu scheitern dann liegt das nicht an dir, sondern an Zielen, die nicht deine sind.
- Wenn du meinst zu scheitern, dann schreibe über das Scheitern.
- Schreibe über das Atmen, das Schauen, das Radfahren, das Tanzen, das Schreiben.
- Beschreibe, was du siehst, hörst, riechst, spürst und schmeckst.
- Schreib einen Blog im Namen einer fiktiven jungen Frau, und versprich dir, dass es jeden Tag einen neuen Blogbeitrag gibt – selbst wenn der noch so kurz ist. (Bei Blog kann man die Beiträge ja auch vordatieren – also an einem Wochenende etwa 4 Beiträge schreiben, die dann Tag für Tag veröffentlich werden)
- Wenn du dich dabei ertappst, im Kreis zu denken, setz dich hin und schreibe alles auf, was dir jetzt durch den Kopf geht.
- Versuche nicht, etwas Neues zu erfinden – denn deine Sichtweise alleine ist schon einzigartig, weil du – wie jeder Mensch – einzigartig bist.
- Denke dir: Nicht nur das Schwierige zählt. Es darf auch leicht sein. Es darf auch einfach sein.
Ein Teil von dir ist schon so herrlich klar! „Das einzige was ich will, ist etwas eigenes zu erfinden -lebendig machen- und die Menschen damit zu berühren. Der Welt etwas Neues schenken, etwas von mir.“ Ja, tu das. Und etwas Neues schaffst du ganz automatisch, weil deine Sichtweise – per Definition – einzigartig ist. Weil du einzigartig bist, ist deine Sichtweise für die anderen neu.
Sag, darf ich deine E–Mail auf meinen Blog stellen? Natürlich Anonym … weil die Mail kann vielen anderen Menschen auch helfen – schlichtweg damit sie merken, sie sind nicht alleine.
Halte mich am Laufenden!
Liebe Grüße
Thomas
Ich bin berührt von der Fragemail oder der Person, die dahintersteckt, weil sie sich das traut, wonach ich mich sehne, mich in meiner Verletzlichkeit und Scham zu zeigen und um Hilfe zu bitten. Bin berührt von der Antwort, weil sie das gibt, wonach es mich dürstet, wenn ich „die Krise hab“ – gesehen werden – ernst genommen werden.
Danke für die Berührungspunkte…
Was schreibt man auf so ein Mail? Thomas Wollinger hat das, glaube ich, gerade äußerst gut gemacht. Denn ich halte es für sehr wichtig darauf zu antworten und nicht nur sagen, aber es gibt ja schon so viele Bücher, da hast du keine Chance im Literaturbetrieb, das interessiert uns nicht , was du schreibst und denkst, du hast kein Recht darauf und es können nicht alle gewinnen, veröffentlichen, etc.
Die, die meine Kommentare und Blogartikel kennen, wissen, daß ich soetwas schon gehört habe, da war ich älter als sechzehn und Blogs, an die ich mich wenden hätte können, hat es nicht gegeben. Die Schreibseminare auch nur höchstens in Amerika und dahin bin ich nicht gekommen. Heute gibt es die E-Buch Flut, das sogenannte Selbstpublishing, wahrscheinlich mehr Selbstvertrauen und immer wieder erstaunliche Senkrechtstarter, die neidisch machen können, so hat im September eine junge Frau Platz eins auf der ORF Bestenliste bekommen, die gerade ein paar Jahre älter als Sechzehn ist.
Eigentlich könnte ich alles in Thomas Wollingers Antwort, vielleicht in etwas anderen Worten, unterstreichen. Weiterschreiben, weitermachen, sich nicht entmutigen lassen, aus den Fehlern lernen und versuchen die Hemmungen zu überwinden. Ein bißchen Glück und Anerkennung bzw. Wertschätzung der anderen braucht man wohl auch dazu.
Noch etwas Eigenes, ich habe ja den Startpunkt meines literarischen Schreiben im Sommer 1973, nach meiner Knödelakademiematura gesetzt und in diesem Sommer wirklich eine Erzählung zustandegebracht, die ich nie korrigiert habe und auch noch nicht vielen Leuten zeigte. Dann habe ich zu studieren angefangen, damals konnte man sich mit dem Inskribieren Zeit lassen, mußte noch nicht am 5. September gemeldet sein und einen Aufnahmetest brauchte man auch nicht machen und dachte, ab jetzt schreibe ich am Abend und am Wochenende. Das hat hat nicht funktioniert und ich bin bald auf meine Grenzen gestoßen. Habe aber weitergemacht. Die nächste fertiggewordene Erzählung, das war 1977, zwei Freunden gezeigt und kiefle an dem, was sie mir sagten, immer noch, aber versucht über die Grenzen zu kommen und den Inneren Zensor loszuwerden. Ein wenig Anerkennung und nicht nur Übersehen werden, täte mir auch ganz gut, obwohl ich jetzt schon bald sechzig werde. Aber manchmal denke ich, was mache ich, wenn jetzt plötzlich der Erfolg käme, hielte ich diese Änderung überhaupt auch, denn das trotzig Verbissen weitermachen hat ja auch seinen Reiz und ist wahrscheinlich das mein Schreibprofil ausmacht.
In diesem Sinne viel Erfolg und weiterschreiben, sich nicht ermutigen lassen, denn der Drang Spuren zu hinterlassen, sich auszudrücken und sich zu verwirklichen, steckt wahrscheinlich in jeden Menschen und man sollte sich nicht den Luxus erlauben ihn so einfach zu ersticken, weil das ja, sehr sehr schade wäre!