Nein. Nur nicht tanzen heute! Außerdem ist morgen Montag, dann geht der Stress im Projekt weiter, und ich muss doch schlafen. Was war das für eine Idee, ausgerechnet sonntags! Nicht nur heute, sondern alle kommenden fünf Sonntage. Ich will ein Buch lesen. Und acht Stunden Ruhe will ich haben. Aber stattdessen stehe ich auf der Kärntnerstraße herum, soeben vom U–Bahnschacht rolltreppenhaft emporgespien. Fußgängerzone mit seitlichem Schaufensterlicht, und ich friere, obwohl eigentlich Frühling sein sollte. Und schon gar nicht ertrage ich jetzt eine Salsa! Weil ich diese Musik nicht ausstehen kann. Dieses hektische Netz aus wirren Trommelschlägen und Trompetengetue, wo ich beim Tanzen keinen Einstieg für den ersten Schritt heraushöre, wo ich dazu verdammt bin, nach den Füßen der anderen Paare zu sehen, damit ich nicht außerhalb vom Takt wie der ärgste Anfänger herumimprovisiere. Lieber umkehren, lieber schnell nach Hause, ich schwöre, heute ich die Nacht, da könnte ich endlich wieder durchschlafen!
Eineinhalb Stunden, Heinz. Dann kannst du nach Hause. – Aber fünfmal hintereinander! – Heute ist es nur einmal, Heinz. Und wenn du daheim bist, stell dir vor, was wird dann wieder sein, mit dir?
Ich gehe weiter.
Dies ist der aktuelle Beginn von „ausgegraben“. Zugleich alles, was ich vom Roman in der 6. Fassung habe. Vor ein paar Stunden hatte ich ein paar Seiten mehr, habe es hinfortgekürzt. Weil ich eine kräftige Sprache brauche. Eine, die der Kellerszene von Violanum würdig ist.
Vor ein paar Tagen gab es folgenden Anfang:
Hinter meinen Augen, im Inneren meines Kopfes, dort drinnen arbeitet ein Räderwerk von kleinen und ganz kleinen Rädchen mit einem Surren, einem dermaßen pulsierendem Surren, dass ich es stillmachen muss und mir die Handflächen an meine Ohren presse. Aber das Vibrieren, das kann ich nicht aufhalten, das durchzieht meinen Schädel, das geht weiter zu den Knien, zu den Füßen, so dass ich mit den Beinen wippen muss, weil ich sonst nicht weiß, wohin mit meinen Bewegungen. Das einzig Stille in meinem Kopf ist das große Zahnrad. Das sitzt in der Kopfmitte. Es surrt nicht. Es dreht sich still – nein, drehen ist übertrieben, es bewegt sich weiter, bedächtig von einem Zahn zum nächsten. Aber unaufhaltsam! Und an ihm hängen andere Zahnräder. Kaskadenweise diese kleinen hin zu den kleinsten, aneinander gekoppelt mit wahnwitzigsten Übersetzungen, dass ein unmerklicher Bewegungshauch des Großen Rades ein Rasen in den Kleinen hinterlässt, dass es nur mehr Surrendes und Vibrierendes gibt, tausendfach, und eines treibt das andere und treibt hundert weitere, dass die Mechanik heiß wird und glüht vor lauter innerer Reibung. Aber das große Rad hört nicht auf. Es macht weiter mit einer Kraft, die unerbittlich ist, denn es ist die Zeit höchstpersönlich, die dieses Rad vorantreibt.
Und in der Fassung Nummer 5 von 2006 klang der Anfang so:
Bettina sitzt in ihrem Büro im Institut für Ur- und Frühgeschichte. Vor sich, auf ihrem Schreibtisch, stapeln sich Seminararbeiten über die Auswertung von Gräberfeldern. Jemand öffnet die Tür, ohne anzuklopfen. Bettina und schaut auf, bereit, den Hereinkommenden zurecht zu weisen. Es ist Keichlo.
„Was machst du hier?“, fragt sie. Groß ist er geworden, denkt sie. Fast stößt er oben an den Türrahmen.
„Und was machst du hier?“
Er kommt herüber, hebt ein korrigiertes Blatt hoch. Bettina hat Rechtschreibfehler rot markiert. „Immer noch die Perfektionistin, hm?“
„Lass mich arbeiten.“
Er lächelt. „Immer noch die Verbissene, hm?“
Sie schaut zu ihm hinauf. Wie alt ist er mittlerweile? Einundzwanzig? Seine Augen. Scharf umgrenzt von einer dunklen Linie, drinnen im Grün ein helles Geflecht. Bernsteinfarbene Flüsse, die einem schwarzen Zentrum zustreben. Sind seine Augen schon früher so gewesen?
„Gehen wir tanzen“, sagt er.
„Was soll ich?“
„Tanzen.“
„Weshalb soll ich mit dir tanzen?“
„Vielleicht, weil es Spaß macht?“
„Ich habe Spaß genug.“
„Ich sehe es.“
Ich sollte jetzt etwas Freches erwidern, denkt sie. Einen Atemzug später fällt ihr ein: „Stellst du dich immer noch auf Gleise und hältst Züge an?“
„Nein“, sagt er. „Ich mache nur mehr die ganz gefährlichen Sachen.“
„Und das wäre?“
„Mit dreißigjährigen Frauen tanzen gehen.“
„Klingt letal.“
Er hebt die Augenbrauen. „Freitag, zehn Uhr abends. Wir treffen uns vor dem Stephansdom und gehen dann ins La Cabaña.“
„Freitag habe ich sicher keine Zeit.“
… klingt so, als hätten diese drei Anfänge nichts miteinander zu tun, nicht wahr? Ist aber doch verwoben. Weil es darum geht, dass Keichlo (der Romanheld) mit Bettina Salsa tanzt. Natürlich hat sich die Handlung so verändert, dass der Anfang von 2006 nicht mehr passt – weil ich beschlossen habe, diesem Wieder-Treffen der beiden viel mehr Raum zu geben. Die Romanfassung von 2006 ist mir zu sparsam.
Hier zeigt es sich mir wieder einmal: Der Anfang ist das instabilste Stück Text am ganzen Roman. Aber für mich ist es wichtig, einen zu haben, ihn halbwegs zu haben, damit ich mit der richtigen Emotion/Schreibhaltung/Sprache losstarten kann.
Hups, Komma vergessen im letzten Satz… bitte im Geiste hinzufügen :/
Mir gefällt der Text von 2006 am besten. Er kommt ohne diverse Metaphern und Vergleiche, ohne zu viel stream-of-consciousness und Innensicht aus, dafür wirkt es klarer, lebendiger und spannender mit Dialog und erlebter Rede. Der aktuelle Text von einem nicht-figuralen Er-Erzähler erzählt erschiene mir aber auch nicht schlecht.
Liebe Grüße und viel Spaß beim Schreiben! :)