Zeitloser Dostojewskij

In Schuld und Sühne gibt es eine Diskussion über die Grundannahme unseres heutigen Wirtschaftssystems – nämlich, dass Selbstsucht zum Wohle aller sei. (Siehe Auszug am Ende dieses Artikels).

Wenn etwas zeitlos ist, dann reicht seine Gültigkeit nicht bloß in die Gegenwart herüber, sondern auch tief in die Vergangenheit.

Das will ich zeigen, indem ich Dostojewskijs Diskussion in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs versetze (und zwar in Form eines der vielen Briefe, den Stephan als Nachruf über seine Geliebte Viola schreibt; diese Stephanbriefe sind Teil meines Romans).

52. Stephanbrief – Viola und der Händler

Viola trat zum Viktualienhändler und sprach:
Weshalb ist der Schäffel Roggen gar so teuer?

Der Händler sagte:
Es ist der Krieg.
Es ist die Missernte.
Es ist die Hungersnot.
Das treibt es die Preise an.

Und Viola sprach:
Hat der Krieg schon dein Gehöft erreicht?
Hat Hagel deine Felder zerstört?
Muss deine Familie hungrig zu Bette gehen?
Gibst du das Korn für weniger her,
so können auch die Armen
einmal satt den Tag beenden.

Der Händler sprach:
Ach, ich weiß alles über Nächstenliebe!
Ich riss meinen Mantel in zwei
und gab einen davon meinem Nächsten,
und wir blieben beide zur Hälfte nackt.

Die Welt lehrt uns: Liebe vor allem dich selbst,
denn alles in der Welt gründet sich auf das eigene Wohl.
Wenn du dich selbst nur liebst,
wirst du es sein, der deine Angelegenheiten
in Ordnung bringt, ganz so,
wie sich‘s vor Gott geziemt,
und dein Mantel, der bleibt ganz.

Und je mehr jeder erwirbt,
desto mehr Mäntel bleiben ganz –
Zum Wohl aller ist es dann.
Denn der Wohlstand ist der fest Grund
auf dem jeder sein Haus bauen kann.
Wenn ich alleine für mich erwerbe,
erwerbe ich sogleich für alle
und trage bei, dass auch mein Nächster
mehr erhält als den zerrissenen Mantel.

So einfach dieser Gedanke ist,
er blieb der Menschheit lange Zeit verborgen.
Stattdessen geht die Welt zugrunde,
versinkt in Krieg und Unmoral,
Und gar nicht spreche ich von
Krüppeln und den Marodeuren,
von Brandstiftungen und Morden.
Ich meine unsere Grafen und die Fürsten,
die uns mir horrenden Steuern pressen
Und all die Offiziere, die brandschatzend
mit ihren Horden durch die Lande ziehen.
Jeder bereichert sich so schnell es geht
auf Kosten anderer und ohne Rücksicht
sucht Grund und Geld, Titel und Patente!

Beim Kopf beginnt der Fisch zu stinken
Da kann der Schwanz so frisch sein wie er will
Von oben her verfault uns die Moral.
Sich schnell und ohne Mühe zu bereichern,
auf fremde Kosten das gute Leben an sich raffen.
Wo bleibt denn da der feste Grund,
auf dem man Haus und Hof errichten kann?
So ist das wider die Moral!
Das Teufelswerk regiert die Welt
und lässt die Preise in die Höhe steigen.

Und Viola sprach:
So passt doch alles gut zusammen,
dein sehnlichster Wunsch, er ist längst wahr!
Du willst, dass jeder sich selbst der nächste ist,
dass jeder bloß auf seinen Mantel schaut?
Wer von dir Steuern presst,
wer mit seinen Soldaten die Ernte zerstört,
wer brandschatzend durch Dörfer zieht,
der tut doch nur, was du dir wünscht.
Du sagtest doch: Liebe vor allem dich selbst,
und jeder, der so Schlimmes tut,
hat eines nur im Sinn – sich selbst.
Drum fürchte dich vor dem, was du dir wünscht,
denn Gott im Himmel könnte dich erhören.

Hier nun der Auszug aus Schuld und Sühne (Zweiter Teil, Kapitel 5), auf den sich obiger Text bezieht:

»Wenn man mir zum Beispiel bisher sagte: ›Liebe deinen Nächsten!‹ und ich ihn demgemäß liebte, was war dann die Folge?« fuhr Pjotr Petrowitsch mit vielleicht etwas zu weitgehendem Eifer fort. »Die Folge war, daß ich meinen Rock in zwei gleiche Teile zerriß, den einen Teil meinem Nächsten gab und wir so beide halbnackt blieben, nach dem Sprichworte: ›Wer mehreren Hasen zugleich nachjagt, bekommt keinen.‹ Die Wissenschaft aber sagt: ›Liebe vor allen andern dich selbst; denn alles in der Welt beruht auf dem persönlichen Interesse.‹ Wenn man also nur sich selbst liebt, so betreibt man seine Geschäfte mit der gehörigen Sorgfalt, und der Rock bleibt heil. Und die nationalökonomische Theorie fügt hinzu, daß, je mehr wohlgeordnetes Privateigentum, sozusagen ganze Röcke, es im Staate gibt, um so mehr feste Grundlagen für ihn vorhanden sind und um so mehr das Wohl der Gesamtheit gesichert ist. Folglich, wenn ich einzig und allein für mich erwerbe, so erwerbe ich gerade dadurch gewissermaßen auch für alle und bringe es dahin, daß mein Nächster etwas mehr als einen halben Rock erhält, und zwar nicht von der privaten Mildtätigkeit eines einzelnen, sondern infolge der allgemeinen gedeihlichen Entwicklung. Der Gedanke ist so einfach; aber leider hat es allzulange gedauert, bis er sich hat durchsetzen können, da Verstiegenheit und Phantasterei ihm im Wege standen; und doch sollte man meinen, daß nicht viel Scharfsinn erforderlich ist, um einzusehen …«

Dem wird etwas später widersprochen:

»Ziehen Sie aus den Grundsätzen, die Sie vorhin vortrugen, die sich daraus ergebenden Schlüsse, so kommen Sie zu dem Resultate, daß es gestattet ist, andre Menschen zu töten …«

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