Silvester rannte, weil er nicht auf eine Straßenbahn warten wollte. Er rannte alle drei Stockwerke hinauf, weil ihm jetzt der Aufzug zu langsam war. Er drückte die Klingel, so lange und so fest, bis Papa die Tür öffnete.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Papa.
Silvester keuchte und rief: „Ich bin endlich in der Bande vom Kowalski.“
Papa gab Silvester einen Kuss auf die Stirn, streichelte ihm über die Wange und sagte: „Toll.“
Im Vorzimmer ließ Silvester seine Schultasche zu Boden gleiten. Dann hüpfte er in das Wohnzimmer zum gedeckten Esstisch. Er setzte sich, und da trug Papa schon die dampfende Schüssel herein. Überbackener Nudelauflauf. Papa hatte die weiße Schürze umgebunden, die ihm Silvester zu Weihnachten bemalt hatte. Mit Schwein, Kuh, Würstel und mit einem Brokkoli.
Ein Brokkoli ist leicht zu zeichnen, wenn man einen Baum zeichnen kann. Auf Papas Schürze waren noch ein Wolf und ein Schaf. Ein Schaf ist leicht zu malen, wenn man eine Wolke zeichnen kann. Nur ein Wolf ist schwierig, weil der leicht wie ein Hund aussieht.
Beim Essen fragte Papa: „Und, was war heute los in der Schule?“
»Papa. Ich bin in der Bande vom Kowalski.«
»Das ist ja toll«, sagte Papa und kaute an einem Brokkolibäumchen. »Und, was für eine Bande ist das?«
Silvester beugte sich über seinen Teller und sagte: »Das ist geheim.«
»Und was macht ihr in eurer Bande?«
»Das ist geheim«, sagte Silvester.
»Oh«, sagte Papa. Er spießte ein Stück Wurst auf und legte es auf Silvester Teller. Silvester fand dafür etwas Grünes für Papa.
»In der Bande haben wir einen Geheimsatz«, sagte Silvester. »Nur wer den Geheimsatz kennt, der darf mitmachen.«
»Und wie lautet euer Geheimsatz?«, fragte Papa.
Silvester überlegte. Er konnte Papa doch unmöglich den echten Geheimsatz sagen! Deshalb sagte Silvester: »Der Wolf hat das Schaf erschreckt.«
»Warum hat er das getan?«, fragte Papa.
»Wer?«
»Der Wolf.«
»Papa, das mit dem Wolf ist egal. Es ist halt irgendein Satz, den der Kowalski erfunden hat.«
»Ich werde den Satz auch nicht weitersagen«, flüsterte Papa.
In der Nacht hatte Silvester einen Piratentraum. Er war wieder einmal der böseste Pirat des Meeres. Nach einem wilden Raubzug segelte er zurück in seine Piratenbucht. Auf dem Landungssteg stand schon Kowalski. Ihm musste Silvester den geheimen Satz sagen, damit er das Piratenland betreten durfte.
Silvester sagte: »Der Wolf hat das Schaf geneckt.«
Kowalski schüttelte den Kopf. Silvester wurde heiß.
Silvester sagte: »Der Wolf hat das Schaf entdeckt.«
Kowalski schüttelte den Kopf. Silvester brach der Schweiß aus.
Silvester sagte: »Der Wolf hat das Schaf geweckt.«
Kowalski schüttelte den Kopf, und aus dem Piratentraum wurde ein Drachentraum. Kowalski verwandelte sich in einen roten Feuerdrachen und jagte Silvester durch dampfende Brokkoliwälder, zur Strafe dafür, dass er den Geheimsatz vergessen hatte. So lange, bis Papa Silvester mit einem Kuss aufweckte und damit vor Kowalskis Rache rettete.
Silvesters Pyjama war nass geschwitzt. Blöd auch, dachte Silvester. Dass ich im Traum den richtigen Satz nicht rausgekriegt habe. Am besten, werde übe den Satz noch etwas.
Heute gab es Frühstück zu dritt, denn Rolf war da. Rolf war Papas Freund seit letzem Jahr. Manchmal arbeitete Rolf abends recht lange und kam erst, wenn Silvester schon schlief. Papa aß sein Marmeladebrot. Rolf teilte mit Silvester sein gebratenes Spiegelei und einen Streifen vom knusprigen Speck. Silvester aß und übte murmelnd den Geheimsatz.
»Hmm, was meinst du?«, fragte Rolf.
»Das ist geheim«, sagte Silvester.
»Sehr geheim ist das«, sagte Papa und holte einen weiteren Klacks Marmelade aus dem Glas.
Silvester murmelte weiterhin. Beim Anziehen. Im Stiegenhaus. In der Straßenbahn. In der anderen Straßenbahn, weil er eine Station zu früh ausgestiegen war. Auf dem Gehsteig vor der Schule. In der Aula, wo die Mädchen zu ihm herübersahen, weil er mit sich selbst redete.
Da packte ihn jemand von hinten am Arm. Kowalski. Er zischte: »Wie lautet der geheime Satz?«
Silvester flüsterte: »Rolf hat sich im Schlaf gestreckt?«
»Hm«, sagte Kowalski. »Und ich habe mir echt eingebildet, es war irgendetwas mit einem Fuchs.«
Diesen Text schreib ich am 22.3.2009 in der Kinderbuch–Schreibwerkstatt des Texthobels, geleitet von Saskia Hula.