Viele Autorinnen und Autoren treibt es raus aus der Enge, raus der eigenen Familie, raus dem kleinen Denken, rein in die Vogelperspektive. Werke wie „Im Wendekreis des Krebses“ wären sonst wohl nie entstanden.
Ich bin Charly Hofbauer dankbar, dass der dieses Thema so treffend auf den Punkt gebracht hat. In der fulminanten Kurzgeschichte „Himmel, Arsch und Zwirn“ wird einem fiktiven Autor die Frage gestellt, ab welchem Zeitpunkt er sich selbst als ernstzunehmenden Schriftsteller gesehen habe:
Ab dem Tag, an dem mir klar wurde, daß man sich nichts scheißen darf.
Das führt zu Konsequenzen. Bei Hofbauer wird der fiktive Autor erschossen, nachdem er in seinem Roman „Die Kotze auf dem heißen Backblech“ die Bulimie seiner Schwester verarbeitet hat.
Charlotte Roche hat offenbar das Sterben ihrer Geschwister im Roman verarbeitet. Und so liefert untenstehender Zeitungsartikel ein schönes Beispiel dafür, dass man als Autorin viel Kritik aushalten muss, als Preis für die Grenzgänge.
(Ich persönlich habe Feuchtgebiete nicht gemocht, aus schlicht sprachlichen Gründen – das ist meine Meinung, und andere drüfen / sollen eine andere Meinung haben)
Vom Stiefvater bis zu Alice Schwarzer
Auf Charlotte Roche prasselt Kritik ein
15. August 2011 19:07Schwarzer über „verruchte Heimatschnulze“: „Du hast nicht die Lösung, du hast das Problem“
Köln – Nach „Feuchtgebiete“ hat Charlotte Roche mit „Schoßgebete“ nun ihren zweiten Roman vorgelegt – und wieder gibt es jede Menge Wirbel. Am Montag meldeten sich zwei Kritiker zu Wort: Alice Schwarzer und Roches Stiefvater Ulrich Busch, ein Ex-Mann ihrer Mutter Liz.
Die familiäre Seite …
Busch warf Roche vor, den Unfalltod ihrer Brüder werbewirksam auszuschlachten. Roches Bruder William (21), ihr Halbbruder David (9) und das Pflegekind Dennis (6) waren 2001 auf dem Weg zu Roches Hochzeit in London tödlich verunglückt. Ein sehr ähnlicher Unfall kommt auch in dem Buch vor.
„Ohne Rücksicht, Skrupel und Respekt wird das Familienunglück zur Schau gestellt und vermarktet“, sagte Busch stern.de. Roche habe ihn vor einem Jahr dazu bewegen wollen, ihr die Unterlagen zu dem Unfall auszuhändigen. Sie habe damals gesagt, dass sie Dokumente wie Obduktionsberichte, Totenscheine und Gegenstände aus dem ausgebrannten Wagen für eine Therapie brauche. Busch habe ihr die Unterlagen jedoch verweigert. „Jetzt weiß ich, wofür sie die Dokumentation haben wollte. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.“
Roche bestritt jedoch gegenüber stern.de, dass sie die Dokumente für das Buch benutzen wollte. „Die Aufarbeitung dieser Akten, die mir mein ehemaliger Stiefvater ja leider nicht ausgehändigt hat, wäre ein wichtiger Teil meiner Traumatherapie gewesen.“
… und die feministische
Unterdessen äußerte sich Roches „Ex-Freundin“ Alice Schwarzer in wenig schmeichelhaften Formulierungen über das Buch. In einem Offenen Brief an Roche auf ihrer Website schrieb sie: „Eines allerdings wäre fatal: Wenn deine Leserinnen deine verruchte Heimatschnulze über Sex & Liebe für ein Rezept halten würden. Denn du hast nicht die Lösung, du hast das Problem.“
Schwarzer sieht sich als „feministische Rachegöttin“ Seite an Seite mit Roches Mutter durch das Buch geistern. Sie verstehe schon, dass Roche damit auf ihre „so forciert emanzipierte Mutter“ reagiere. „Aber deine Mutter hat auch nur auf ihre Mutter, deine Großmutter, reagiert. Und du wiederum, du reagierst nun auf deine Mutter – und machst es wie die Großmutter. Soll diese fatale Wechselwirkung immer so weitergehen?“
Die relativ wenigen Sexszenen in dem Buch halte sie eher für einen Verkaufstrick, schreibt Schwarzer. „Dieser von dir wie durch ein Mikroskop klinisch betrachtete eheliche Sex zwischen Wirsingeintopf und Wärmedecke klingt wenig aufregend.“ (APA)
An manchen Tagen denke ich: dieser Bestseller-Zirkus ist einfach nur mühsam. (Da ist natürlich immer auch Neid dabei.) An anderen Tagen: das macht eben auch die Vielfalt von Literatur aus. (Das sind die Tage, an denen Glück und Schreiben einander nahe sind und es einfach nur um die Freude am Lesen und Schreiben geht.)